Claudia Michelsen & Marlene Burow

„JEDER MUSS SEIN GESTERN ERLEBEN“

„In einem Land, das es nicht mehr gibt“ ist ein zauberhafter, lebensbejahender Film über eine junge Frau, die in der DDR den Widrigkeiten des Daseins trotzt. Die Botschaft ist von aktueller Gültigkeit. 

Die kleine Schwester tanzt mit einem BH über dem T-Shirt wie Madonna. Die Ladenbesitzerin sagt in die lange Schlange hinein: „Club Cola ist alle. Nächste Woche wieder.“ Und zur hübschen Suzie, die nach dem Abi Literatur studieren will und der sie ein neues (verbotenes) Buch in die Hand drückt: „Jeder wird den richtigen Mann finden.“ Und Suzie antwortet: „Ich will mich selbst finden.“ So geht es los. Der Film (Kinostart ist am 6. Oktober) spielt in der DDR, beruht auf den eigenen Erfahrungen der Drehbuchautorin und Regisseurin Aelrun Goette, die in den 80er-Jahren auf der Straße in Ost-Berlin als Mannequin, wie es damals noch hieß, entdeckt wurde. Und er erzählt von den kreativen Nischen, in denen wilde Freiheit gegen alle Widerstände lebendig war. Das Regime ist subtil gegenwärtig, aber die Geschichte trägt bis in die Gegenwart. Der Satz, den die Mutter der Hauptdarstellerin Suzie (benannt nach Suzi Quatro) mit auf den Weg gab, kennt weder Grenzen noch Verfallsdatum: „Nur wenn wir träumen, sind wir frei.“

Der Blick vom Journalisten Club im Verlagshochhaus in Berlin-Kreuzberg, das Axel Springer 1966 als „Turm der Freiheit“ direkt an die Mauer setzte, geht weit. Ein guter Ort für ein Gespräch mit den Hauptdarstellerinnen. Claudia Michelsen, 53, die großartig die Chefredakteurin der legendären Modezeitschrift „Sibylle“ spielt, und Marlene Burow, 21, die Suzie, in jeder Hinsicht eine Entdeckung.

ICON: Marlene, was ist das für ein Land? Es verschwand ja vor Ihrer Geburt.

MB: Es ist mir trotzdem auf eine Art und Weise vertraut, weil meine Eltern alles miterlebt haben.

Nachdem Sie die Rolle bekommen haben, sind da alte Themen hochgekommen? In so manchen Familien ist das Thema ja tabu.

MB: Bei uns nicht. Auch im Freundeskreis nicht. Letztendlich leben wir ja auch noch an dem Ort, wo dieses Filmland war. Es war schön, weil meine Eltern so viel erzählen konnten. Jeder hat ja seine persönliche Erfahrung, seine persönliche Perspektive auf den Osten – es war gut, mal wieder darüber zu reden.

Claudia, Sie sind dort aufgewachsen. Wie ist es bei Ihnen?

CM: Ich möchte erst einmal etwas zu Marlene sagen. Wir alle hatten das Gefühl, sie ist noch aus jener Zeit, eine Freundin, eine Tochter von damals. Das meine ich ganz positiv. Es ist ja viel geschehen in über 30 Jahren, der mediale Irrsinn, der Druck, was junge Frauen heute glauben sein zu müssen, Marlene hat diese besondere Kraft aus sich heraus, ganz ohne Aufwand. Du bist ein Geschenk für jeden Film. Und unabhängig davon hat es Aelrun geschafft, das Gefühl dieser Zeit, das es in allem Kreativen gab, auch aus dem Mangel und Restriktionen heraus, im Film zu transportieren. Aber wir müssen jetzt nicht Mangel kreieren, um kreativ sein zu können.

Als die Mauer aufging, waren Sie etwa im Alter von Marlene.

CM: Ja, und vielleicht war ich auch ein wenig wie Marlene oder Suzie damals. Ich habe mich immer als Glücksgeneration empfunden. In der DDR aufgewachsen zu sein ist rückblickend bei allem Kranken des Systems nicht das Schlechteste gewesen. Das Miteinander war anders. Geld spielte keine Rolle. Nicht, weil wir es hatten, sondern weil es keinen Wert hatte. Ich hatte lange kein Verhältnis dazu, und bis heute ist es irritiert. Aber ich habe angefangen, mich damit zu beschäftigen. Man wird ja auch älter.

Es war auch im Westen früher anders. Eigenverantwortlichkeit wird heute nicht mehr wertgeschätzt, der Staat vermittelt die Illusion, er könnte alles regeln und abfedern. Das erinnert mich allerdings durchaus an die DDR.

CM: Im Osten hast du nicht den Staat gefragt. Wir nicht. Man wusste, wie man mit dem kranken System umzugehen hatte. Dann fiel 1989 die Mauer. Ich war 20, in einem Alter, in dem man die Welt erobern will, daher Glücksgeneration. Aber in den älteren Generationen habe ich viele Menschen erlebt, für die bei aller Freiheit vieles zusammenbrach. Alles ist möglich, das war Überforderung. Wie geht das, freie Marktwirtschaft? Kapitalismus? Die Selbstmordrate war hoch nach dem Mauerfall. Selbst ich kam Anfang der 90er-Jahre mit Berlin nicht klar. Alle fingen an, sich um sich selbst zu drehen. Man musste sich neu erfinden, der Widerstand gegen dieses alte System war ja auch Antrieb.

Suzie wird abgeführt und fliegt von der Schule, nur weil sie im Rucksack George Orwell dabeihat. Das sagt komprimiert ja alles, was das Regime an Verklemmung, aber eben auch Repressalien hatte. Auch als Sabin Tambrea als schwuler Stilist bei der Modenschau tanzt und dann brutal verhört wird. Das sind bei aller Kürze schon eindringliche Momente.

CM: Verstehen auch junge Leute das? Marlene, was meinst du? Redet ihr überhaupt noch über die Zeit?

MB: Ja. Wir leben hier in Berlin ja quasi im Zentrum. Ich bin hier aufgewachsen, und man hat in der Schule immer noch gespürt, wer West- und wer Ost-Verwandte hat. Über welche Erfahrungen redet man? Und wie redet man über die Geschichte? Wir sind die Generation, deren Eltern es noch erlebt haben. Aber ich weiß nicht, wie es für Jugendliche tief im Westen Deutschlands ist, die gar keine Berührungspunkte haben. Ich hoffe einfach, dass junge Leute aus dem Film etwas mitnehmen können, denn unabhängig vom historischen Kontext, geht es um eine junge Frau, eine Kämpferin, die ihren Weg geht. Einfach mal springen. Mutig sein.

Freiheit ist ja nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich. Grad erleben wir Berlin als deutsches Epizentrum dessen, was sich unter gendern, „culture canceling“ und ähnlichen Begriffen subsumiert. Warum fordern heute Studentinnen, dass ein Bild abgehängt wird, weil es sexistisch sei? Die Nazis haben unliebsame Bilder und Bücher verbrannt, wieso sollten wir da anknüpfen? Wieso wird eine Referentin an der Humboldt-Uni gebasht, nur weil ihr Vortragsthema über wissenschaftlich belegte Fakten zum biologischen Geschlecht nicht gefällt?

CM: Ich habe mit meiner 19-jährigen Tochter viele Gespräche darüber, diese Generationen brauchen das gerade und damit auch unsere Gesellschaft. Ich sehe es eher als eine gesunde Phase, dass alles irritiert werden muss. Bei vielem stimme ich zu, wenn auch nicht bei allem, aber wir Älteren sind jetzt gefragt, mit Toleranz damit umzugehen. Es ist ihre Freiheit, jetzt so zu sein. Jeder muss sein Gestern erleben. Und mal ehrlich, es tut uns ja auch gut.

MB: Es ist ein Aufbäumen meiner Generation. Ich finde es auch manchmal extrem, aber es braucht ja immer das Vorschießen in eine Richtung, um sich einzupendeln zu können. Jede Generation hat ihre Themen und Extreme.

Wir waren auch nicht der Traum unserer Eltern. Aber jetzt hat man den Eindruck, dass das Pendel stecken bleiben könnte. Bleibt die Intoleranz?

CM: Wir sind auch gefordert zu sagen, das macht ihr so, aber ich möchte das nicht mehr übernehmen. Ich teste auch, mache es mal so, mal so. Wenn es aber heißt, dass an Schauspielschulen gestandene Schauspieler, die ich immer bewundert habe, nicht mehr unterrichten dürfen, nur weil sie alte, weiße Männer sind, das ist für mich nicht tragbar. Für mich war es immer das Größte, von den Alten zu lernen.

Marlene, fühlen Sie sich frei?

MB: Der Freiheitsbegriff wechselt. Ich bin in jedem Fall sehr behütet aufgewachsen. Es gab und gibt vielleicht Momente, in denen man kurz innehalten muss. Da ist es ganz gut, zu sich zurückzukommen und damit umzugehen, um seinen persönlichen Weg im Blick zu behalten. Das ist ja auch das, was die Filmfigur Suzie lernen muss. Was ist ihr Wert? Am Ende arbeitet sie in der Fabrik, geht mit und kann trotzdem modeln und ihr Buch schreiben. Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass man sich nicht darauf reduziert, was von außen gerade kommt, sondern bei sich bleibt. Meiner Generation liegt eigentlich die Welt zu Füßen. Alles geht. Das wiederum strengt total an und schränkt auch ein. Ich wusste nach dem Abi auch nicht, wohin mit mir. Und dann gibt es die Bilder von Menschen, die schon mit 23 Jahren ihr Start-up gegründet haben, und man spürt den Druck, auch etwas erfüllen zu müssen. Denn du hast ja die Möglichkeit, alles zu machen.

Hilft das Schauspielern, seine Möglichkeiten zu entdecken, weil man in so viel Rollen, Identitäten schlüpfen kann?

MB: Für mich in jedem Fall. Ich wollte es ausprobieren und war oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort und hatte tolle Leute an meiner Seite. Wer hat schon die Möglichkeit, eine Geschichte wie von Suzie zu erzählen?

CM: Marlene geht jetzt nach Leipzig an die Schauspielschule, darf ich das sagen? (Marlene nickt) Ich finde das großartig, dass du das aufsuchst. Schauspielerei ist ja auch ein Handwerk, wie jedes andere Handwerk. Diese Neugier ist für mich essentiell.

Claudia, Sie sagen als Chefredakteurin der „Sibylle“ in einer Situation, als Suzie mit der Anwerbung durch die Stasi konfrontiert und verwirrt wird, den schönen Satz: „Niemand will den kleinen Finger, immer die ganze Hand, Chérie. Was ist es dir wert, deinen Traum zu leben?“ Was würden Sie selbst antworten ?

CM: Leb ihn, deinen Traum! Glücklicherweise sind wir nicht mehr in dieser Form von Freiheitsentzug. Freiheit hatte damals seinen Preis, ja.

Mussten Sie einen zahlen?

CM: Nicht so wie andere, nein. Ich hatte Glück.

Spoiler: Die Schlussszene ist zauberhaft. Möchten Sie auch fliegen können?

MB: Jaa! Aber vieles fühlt sich tatsächlich grad wie Fliegen an. Einfach rein ins Leben.

CM: Ich würde lieber segeln können. Ich wollte als Mädchen schon lieber Jacques Cousteau werden.

Interview
Inga Griese
Foto
Peter Hartwig / ZIEGLER FILM / TOBIS Film