Die Schauspielerin Anne Ratte-Polle stellt Personen nicht dar, sie verkörpert sie. Wir haben sie gebeten, sich selbst darzustellen.
Eine, die hinsieht
Um 18.45 Uhr kommt das Taxi, zwei Minuten zuvor ist das letzte Foto gemacht, es war ein langer Shooting-Tag, und nun stehen noch Proben irgendwo an. Nicht eine Minute war Anne Ratte-Polle ungeduldig, schwierig, schlapp. „Hat doch Spaß gemacht!“, ruft sie, und ihre Energie hängt noch eine Weile im Raum. Hat es. Weil sie beeindruckend gelenkig und geländegängig ist und eine Schauspielerin von ihrem Format gar nicht lange ermuntert werden muss, dem Fotografen mehr als einen Ausdruck zu geben. Die große Folie, hinter der sie unter anderem agiert, hat nichts mit Corona zu tun, es geht um den fotografischen Effekt. In einer „Szene“ nähert sie sich derart unheimlich dem Plastik, dass man meint, gleich rufe Alfred Hitchcock zufrieden „cut!“. Im nächsten Moment tanzt sie losgelöst auf der kleinen Studiofläche, als würde „Saturday Night Fever“ gedreht.
Eine Woche später sind wir zum Interview verabredet, am Telefon, es ist Sonntag, sie ist gerade in Köln im „Chelsea Hotel“, in dem Martin Kippenberger oft gewohnt hat. Sein Satz: „Besser ein lebendes Komma als ein toter Punkt“, könnte als Leitspruch über ihrem Werdegang stehen. Gesellschaftsthemen aufspüren, verinnerlichen, umwandeln in Kreativität, das ist ihr Ding. Und sie tut es voller Humor. Gerade dreht sie eine Serie, die auf dem Romandebüt „Funeral for a dog“ von Thomas Pletzinger beruht. Eine aberwitzige, anrührende, spannende Geschichte über Liebe, Wettbewerb und Männer in der Sinnkrise. Und Frauen. Das Leben als Spirale, nicht Linie. Guter Stoff für Anne Ratte-Polle. Aber erst einmal wird sie ab 30. Oktober in „Schatten der Mörder – Shadowplay“ im ZDF zu sehen sein. Wir verplaudern uns etwas.
Machen Sie oft solche Shootings? Sie wirkten so vertraut.
Nun, ich habe das vorher erst einmal gemacht, für die ukrainische „Vogue“, ich kenne die Juwelierin Polya Medvedeva (#polyame), sie hatte das initiiert, war für mich gefühlt halb privat. Dieses war das erste richtige Shooting. Hat viel Spaß gemacht.
Deutsche Künstler tun sich oft noch schwer mit der Leichtigkeit Mode gegenüber.
Stimmt schon, das war unter Theaterschauspielern eher verpönt, aber so eine Haltung ist Quatsch. Kleider machen Leute. Deshalb habe ich gerade als Schauspielerin eine große Liebe zum Kostüm. Und Mode spiegelt immer auch den Zeitgeist.
Wie halten Sie es persönlich?
Mode ist für mich jetzt eher ein Vollhobby, ein großer Teil meines Geldes geht dafür drauf. Ich sammle Vintage, meine Mutter hatte einen guten Geschmack, hat selbst genäht und vor allem alles aus den 60er-, 70er-, 80er-Jahren aufbewahrt. Ich komme ja vom Dorf, da gab es keine Geschäfte und H&M schon gar nicht, ich bin also immer auf den Dachboden, hab mir die Sachen angeschaut und überlegt: „Kannst du das dieses Jahr schon anziehen?“ Jedenfalls hab ich so meinen eigenen Stil entwickelt und bin dem immer noch treu. Bis jetzt. Wer weiß, was noch kommt.
Die Achtziger waren ja recht überbordend.
Aber schon cool. Diese Schultern! Kleider sind ja auch ein Lebensgefühl, machen etwas mit einem. Ein Kleid auf dem roten Teppich muss mich tragen, nicht ich das Kleid.
Haben Sie Lieblingsmarken?
Wohl eher Kleider, von denen man träumt. Das für den Bayerischen Filmpreis Anfang des Jahres habe ich selbst designt. Das war ein wichtiger Auftritt für mich, ich wollte auch nicht aussehen wie zwanzig oder dreißig. Ich finde mein Alter super, bin stolz darauf, habe es bis hierhin gesund geschafft, das ist viel wert. Das Kleid war angelehnt an 30er-Jahre-Mode. Schon da waren Schultern. Eine Schneiderin um die Ecke hat es mir genäht, in drei Tagen, für 300 Euro.
Hätte auch Couture sein können.
War ja auch handgeschneidert. Und wenn man so ein Kleid dann anzieht, dann fühlt man sich ganz anders, bewegt sich ganz anders.
„Ein Kleid auf dem roten Teppich muss mich tragen, nicht ich das Kleid.“
Das wurde ein legendärer Auftritt. Und ganz praktisch, dass Sie keinen Mini trugen, als das Mikrofon sich in den Boden senkte, weil Ihre Redezeit zu Ende war, Sie aber unbeirrt dem Mikro folgten und schließlich auf dem Boden lagen. Sehr gelenkig und elegant übrigens.
Ich hatte noch ein anderes gekauft, mich aber im letzten Moment doch für dieses entschieden. Ich hatte die Rede lange vorbereitet, hatte auch Zitate von Rosa Luxemburg darin und dachte, Rosa zu Rosa, das passt. Und ich bin ja auch ein großer David-Bowie-Fan und das hat mich ein bisschen an ihn erinnert, die Welt braucht Pink und Punk.
Spaß in der Düsternis?
Sein letztes Album „Lazarus“ ist da schon krass, Bowie wusste ja, dass sein Tod bevorstand, und trotzdem hat es etwas Helles.
Also gilt: das Leben annehmen, so wie es kommt?
Die große Kunst.
Hat Corona etwas mit Ihnen gemacht?
Ich fand es schon toll, keine Termine zu haben, in Ruhe zu Hause zu sein. Man kann sich sonst so herrlich ablenken von wesentlichen Dingen. Ich hatte auch keine wirtschaftlichen Probleme, keine kleinen Kinder und bin es gewohnt, Dinge kreativ umzusetzen, einen gewissen Notzustand auszuhalten als Schauspieler. Man weiß oft nicht, was als Nächstes kommt. Das auszuhalten ist wichtig, weil es wiederum Energie freisetzt. Man muss halt raus aus der bequemen Zone.
Aber man muss auch mal wieder richtig raus, oder?
Das stimmt. Ich bin sehr glücklich, dass ich wieder drehen kann. Habe aber auch gern bei dem Projekt „Die Balkone“ von bildenden Künstlern im Prenzlauer Berg in Berlin mitgemacht und fünf Stunden lang Beuys „ Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ zum Besten gegeben. Mit Ingo Günther, dem Komponisten von Herbert Fritsch, habe ich ein Duo. Mit ihm hätte ich auch Straßenmusik gemacht, wenn der Lockdown geblieben wäre. Es öffnen sich immer neue Räume. Meine Regale habe ich jedenfalls nicht sortiert.
Nochmal zurück zu Ihrem wunderbaren Auftritt beim Bayerischen Filmpreis Anfang des Jahres. Nachdem das Mikrofon im Boden verschwunden war, sprangen Sie auf, beugten sich dicht zum Moderator, als würden Sie ihm etwas zuflüstern, und nutzten quasi sein Headset. Währenddessen schrammelte bereits das Orchester wie ein Automat, obwohl es ja direkt hinter ihnen saß und alles live war. Das war schon bizarr. Aber auch sehr komisch. Woher nahmen Sie die Grandezza, unbeirrt weiterzureden?
Ich musste das machen. Ich war gerade von drei Monaten Dreharbeiten in Tschechien zu „Shadow Play“ zurückgekommen. Der Film ist angesiedelt im Nachkriegs-Berlin 1946 und bezieht sich auf das Buch „Savage Continent“ von dem britischen Historiker Keith Lowe. Es geht darum, wie traumatisiert ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg war. Es ging nach der Stunde null ja erst einmal richtig bergab. Alle hatten den Tod gesehen, und dann musste der Holocaust überhaupt begriffen werden. Was da wirklich stattgefunden hat. Das mit zwei Schweden zu drehen und in Prag zu spielen, gab mir noch einmal eine ganz andere Perspektive auf die eigene Geschichte. Ich wollte noch genauer hinsehen – und gleichzeitig musste ich mit der eigenen Scham umgehen. Früher dachte ich, man ignoriert Rassismus einfach, gibt ihm keine Aufmerksamkeit, denn nur die wollen die. Aber dann hat es mir echt gereicht! Deswegen sah ich es als meine Pflicht, in meiner Dankesrede für die Auszeichnung ein Statement abzugeben.
Aber Ihre vier Minuten statt der vorgegebenen drei Minuten haben die Regie offenbar überfordert? Dabei war es kein Gestammel und Dank an Verwandte, sondern überlegt. Es war zudem der Todestag Ihrer Eltern, die Sie sehr früh durch einen Unfall verloren haben.
Ja. Ich rede nicht gern über Familiäres, aber in dem Fall passte es zur Rede, weil es ein solch ungeheurer Tiefschlag damals war. Ich wollte gern vermitteln, dass man aus etwas Schrecklichem heraus das Leben auch neu gestalten kann.
Nicht vergessen und in die Zukunft blicken.
Genau. Ich denke nicht, dass sich Geschichte immer wiederholt.
Hat sich jemand von der Regie mal entschuldigt?
Nein. Im Grunde war alles ein Spiegel der Rede, der Widersprüchlichkeiten im Leben und deshalb toll. Ich bin nun mal Theaterschauspielerin, ich lass mich nicht von der Bühne schmeißen. Eigentlich kann dir da gar nichts Besseres passieren, als dass ein Mikrofon im Boden verschwindet. Meine Kollegen von dem Stück „Murmel Murmel“ von Herbert Fritsch sind großartige Komiker, die die Mikrofonnummer ausgereizt haben. Ich hätte da niemals konkurrieren wollen. Und dann das. Aber es hat mich schon einiges gekostet, die Grenzen zu übertreten. Dachte im ersten Moment auch, das war es jetzt, hätte eine schöne Karriere werden können. Aber vielleicht kannst du noch Designerin werden für Frauen, die auf solche Veranstaltungen gehen.
Warum sind Sie Schauspielerin geworden?
Weil ich irgendwann gemerkt habe, dass ich das nicht nur kann, sondern es auch Spaß macht. Spielte schon in der Grundschule, bei Krippenspielen in der katholischen Kirche. Habe mich oft gefragt, wieso sich manche Leute mehr Raum nehmen. Oder nehmen können. Lebensgefühle haben mich sehr interessiert. Ich habe auch mal überlegt, bildende Kunst zu studieren, aber dann gedacht: „Nee, allein arbeiten ist nicht meins.“ Ich finde den Austausch gut.
Ihre Großmutter hat am Dorftheater im Rheinland gespielt, richtig?
Sie hatte ein herrliches Lachen. Hat aber wohl Tragödien gespielt. Am Gymnasium wurde mir das Theater erst einmal langweilig, es war auch so weit, vom Land dahinzufahren, und ich hatte so viele andere Hobbys, hatte ein Pony, spielte Klarinette. Doch mit 17 und frisch verliebt zum ersten Mal habe ich wieder mitgespielt. Der Zuspruch war groß, ab da bin ich es nicht mehr losgeworden.
Aber erst einmal haben Sie auf Grundschullehrerin studiert?
Ja, ich bin mit meinem Freund nach Münster gezogen, der absolvierte dort den Zivildienst. Und ich brauchte Stadtleben, die ungeahnte Freiheit, die ein leichtes Studium mit sich brachte. Meine Eltern waren auch Grundschullehrer. Ich studierte also Mathe, Deutsch, Katholische Theologie. Das war am Ende das interessanteste Fach.
Aber Sie meldeten sich auch gleich bei der studentischen Theatergruppe an?
Ja. Doch ich hätte immer noch Mutter und Hausfrau werden können und Theater als Hobby betreiben. Die Entscheidung, es beruflich zu machen, kam erst später. Ich wollte auch nicht gleich in die nächste Schule. Ich fand Uni toll. Akademisches Viertel, machst, was dich interessiert, das musste ich erst einmal erleben. Die Schauspielschule dann war irrsinnig streng. Wenn man morgens um 8 Uhr nur fünf Minuten zu spät zum Bewegungsunterricht kam, wurde man gefragt, ob man nicht Schauspielerin werden wolle! Es war schon hart. Aber der Beruf ist auch hart.
Wie haben Sie denn nach drei Jahren Uni die Kurve gekriegt?
Die Kollegin Gabriele Brüning hat mich irgendwann angesprochen, warum ich Schauspiel nicht zu meinem Beruf mache. Und binnen einer hundertstel Sekunde wusste ich, dass es das ist. Ich wusste aber auch gleich, was die Entscheidung bedeutet, nämlich, dass jedwede Form von bürgerlichem Leben damit, jedenfalls für mich, hinfällig geworden ist. Ein Sprung ins kalte Wasser. Aber ich schwimme dort gern.
ICON Interview
Jörg Oppermann / La Biosthétique