Eine Kolumne von Inga Griese

Die alte Normalität zum neuen Jahr

Im Garten von Inga Griese auf Sylt. Ton an!

Das Wetter ist wie das Jahr: abweisend. Klatschnass seit Tagen, lichtarm, kriechende Kälte. Wenn man nicht aufpasst, kann man sich schnell was wegholen. Und schwermütig werden. Aber die Rosen im Garten halten ihre Blüten wacker hoch. Selbst der Sturm konnte sie nicht hinwegfegen. Prächtig sieht das aus, man ist versucht, sie abzuschneiden für die Vase, die Weihnachtsdekoration ist ja wieder verstaut. Nur aus der Nähe erkennt man, dass sie doch arg fragil sind. Würde man sie ins warme Haus holen, fielen die Blätter schnell ab. In Würde durchhalten in der Unwirtlichkeit ist ihr Modus. Ist gut anzusehen.

Auf dem Küchentisch stehen stattdessen Tulpen, ein Armvoll, lindgrüne robuste Stiele, schneeweiße Blüten. Die Blumen da draußen mahnen, die drinnen suggerieren Normalität. Denn immer, sobald die Feiertage vorbei sind, investiere ich umgehend in frische Tulpen, auch in diesem Jahr, wo die Feiertage eher freie Tage waren. Zu Neujahr muss stets alles aufgeräumt sein für den Neustart, muss es blühen statt heimeln. „Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun.“ Als Mahatma Gandhi das sagte, dachte er natürlich nicht an so etwas Banales wie Tulpen. Aber ich will dem neuen Jahr schon mal signalisieren: Sei herzlich willkommen! Ich bin bereit, ihm und mir was Schönes zu erzählen. Gerade jetzt anzuknüpfen an die guten Momente, die es ja auch gab. Dieser wunderbare Sommer. Manche sagen, 2020 wäre ein verlorenes Jahr. In finanzieller Hinsicht stimmt das für viele, für manche ist es ganz schlimm. Verloren ist es gleichwohl hoffentlich nicht, wir haben vielleicht zeitweise die Orientierung und das Zeitgefühl verloren, aber 2020 ist immer noch in unserer Erinnerung und in unserer Zukunft. Was machen wir mit ihm dort? War es einfach ein Unwetter? Die Pubertät der Menschheit? Der Anfang von einem guten Ende? Können wir aushalten, es noch nicht zu wissen?

Mit welchen Vorsätzen starten wir in die neue Dekade? Das Übliche? Weniger Alkohol, Essen, Zigaretten – dafür mehr Sport? Sind das noch die Themen? Eine Umfrage in Norddeutschland hat ergeben, dass die Menschen weniger Geld für Konsumgüter ausgeben wollen. Vor allem die Älteren. Überraschung! Wer schon hatte, der braucht vielleicht auch weniger? Wer sind die Guten, wer die vermeintlich Bösen? Wer treibt wen warum vor sich her? Was haben wir 2020 erkannt und gelernt? Alt gegen Jung? Junge gegen alte Gewissheiten? Home gegen office? Vorurteile gegen Veränderung? Aufräumen? Kochen? Trinken? Stricken? Fürsorge? Hassen? Laufen? Mathe? Netflixen? Achtsamkeit? Still werden? Zuhören? Nix? Ich weiß es nicht wirklich. Die Zukunft kommt ja noch.

Wenn mir im Januar jemand gesagt hätte, ich würde demnächst mit einer Maske vor dem Gesicht an einen Bankschalter treten und um eine größere Summe bitten, dann hätte ich wahrscheinlich mit den Augen gerollt. Ein Jahr später rollt jemand mit den Augen, wenn die Maske beim Betreten der Bank nicht wesentliche Teile des Gesichts ordentlich abgedeckt. Gestern trat im Supermarkt in der Wurstschlange ein gepflegter älterer Herr dicht auf mich zu, und hielt mir zwei Dosen Ölsardinen vom Sansibar hin. „Das sollten wir heute Abend mal probieren. Die sollen ganz toll sein“, sagte er beschwörend im Flüsterton und legte die Dosen in meinen Wagen. Ich blickte ihn an, er blickte zurück und sprach weiter. Schließlich fragte ich: „Meinen Sie mich?“ Er schaute mich irritiert an und nickte. „Sicher?“ Er schaute und sagte: „Sie sind nicht meine Frau?“ „Öh. nein.“ „Ach ja, die steht ja hinter Ihnen! Aber Sie sind sich so ähnlich!“ Sie trug auch den hellblauen Standardmundschutz. Und einen dunklen Mantel. Keine Brille und angeklatschte Haare, dafür ein weißes, dickes Stirnband über der gepflegten Frisur. Wir haben alle herzlich gelacht hinter unseren Masken. Das Leben grüßt.

Text
Inga Griese