Auf Sylt dürfen Autofans und Autohändler noch ihrer PS-Leidenschaft frönen – auch wenn der kleine Korb-Fiat eines Ferien-Wahlkampeners längst der ultimative Knaller ist. Aber Träumen bleibt erlaubt. Tom Junkersdorf hat eine Geschichte dazu.
Hoch die Flügel
Alte Science-Fiction-Serien sind vielsagend: Wie sich die Menschen damals die Zukunft vorgestellt haben – und wie oft sie mit ihren Visionen doch recht behalten sollten. 1966 beim Start von „Raum-schiff Enterprise“ etwa, das sich viele Lichtjahre von der Erde entfernt in fremde Galaxien vorwagte, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat. Commander war ein gewisser James T. Kirk. Seine Crew rekrutierte er schon damals mit Lebensformen aus unterschiedlichsten Planetensystemen, obwohl von Diversity in Stellenausschreibungen noch gar keine Rede war. An Board kommunizierten alle über röhrenartige Stöpsel im Ohr: Prototyp für die heutigen AirPods. Oder noch früher bei den Jetsons. Eine Zeichentrickfamilie, die schon 1962 in einer fliegenden Untertasse unterwegs war und sich an Shoppingmalls oder der Schule absetzen lassen konnten: Es ist das Konzept Flug-taxi, mittlerweile ein Milliarden-Business. Ob die Erfinder dieser Fantasy-Serien rückblickend wohl ahnten, dass sie Technologie-Treiber sein würden? Chefdesigner Gorden Wagener ist so etwas wie der Captain Future von Mercedes Benz. Seine Mission: heute zu kreieren, was unser Leben in fünf oder zehn Jahren be- stimmt. Er beamt unsere Wünsche an das künftige Ich. Sein Auftritt ist Hollywood-reif, was sich in der Nachbarschaft durchaus anbietet. Seine Bühne das Mercedes Designstudio im kalifornischen Carlsbad, 90 Meilen südlich von Los Angeles. Leicht zu finden. Immer nur den Pacific Highway runter Richtung San Diego, eine der längsten Strandstraßen der Welt, fast jeder Parkplatz ein Surfer-Paradies. Alle wollen hier auf die nächste große Welle. Auch im Business.
Gorden, wie sie ihn hier rufen, hat Mitte Juni zum „Design No 5“-Summit geladen. Ein exklusiver Blick ins Zukunftslabor der Mobilität und weit darüber hinaus in andere Galaxien, weil sich Mercedes nicht mehr in Konkurrenz zu anderen Autoherstellern sieht, sondern im Wettbewerb mit führenden Luxushäusern wie Dior oder Louis Vuitton. Luxus als Motor der neuen Zeit. Den blickdichten Lichthof des Kreativ-Hubs hat er in Orange auskleiden lassen, als hätte jemand eine Hermès-Tüte auf links gedreht. Dann kommt die Zukunft vorgefahren. DerMercedes „Vision One-Eleven“. Ein Supersportwagen wie von einem anderen Stern. Flach wie ein Ufo. Eine Silhouette wie ein Regenbogen. Nur eben in Orange. Im Cockpit, eher digitale Kommandozentrale, sitzt der Chefdesigner höchstpersönlich. Er lässt die Flügeltüren wie Adlerschwingen in den amerikanischen Abendhimmel aufsteigen. Silberne Sitze, das ganze Heck ein digitales Display.
Back to the Future – der Weg führt durch die Vergangenheit. Der „Vision One-Eleven“ ist eine Reminiszenz auf den legendären Mercedes C 111, erfunden 1969. Ein Sportwagen, der im Gegensatz zur Konkurrenz keinen Spoiler brauchte, sondern Aerodynamik-Probleme mit intelligentem Design löste. Seine Flügeltüren und Klappscheinwerfer: stilprägend. Oder wie es US-Talk-Ikone Jay Leno, ein leidenschaftlicher Autosammler, in seiner Show ausdrückte: „One of the greatest Mercedes of all time. Der Wagen ist so außergewöhnlich – zum Glück leben wir in Hollywood, sodass es überhaupt möglich war, einen zu bekommen. Hier ist ja der Ort, an dem Träume wahr werden.“ Der Mann kennt halt Sylt nicht.
Designer Wagener spricht von „Creating iconic luxury“. Nicht nur einfacher Luxus, ikonisch müsse es heute sein: „Etwas Herausragendes zu kreieren, das ist es doch, was uns morgens aufstehen lässt. Wir alle wollen nicht aufwachen und sagen: Lass uns was Durchschnittliches machen!“ Aber was macht ein Design denn ikonisch? Gorden Wagener erklärt seinen bipolaren Ansatz. Die Kunst sei es, Herz und Hirn gleichermaßen zu erreichen, Emotionen und eben auch unseren Intellekt. Nur so entstünden Begehrlichkeit und Modernität, sogar Liebe und Respekt.
Das sei der Unterschied zu den immer gesichtsloser werdenden Massenprodukten: Ikonische Marken werden geliebt und respektiert, so wie Coco Chanel es geschafft habe mit ihrem Jahrhundertduft N°5. Beim „Vision One-Eleven“ kommen E-Power und künstliche Intelligenz in neuer Dimension zusammen. Statt mit Sonnenbrille fahren wir mit neu- artigen Augmented-Reality-Gläsern, die erlebbar machen, was wir bisher nur aus Science-Fiction-Filmen kannten. Die Straßenkarte aus dem Navi ragt plötzlich dreidimensional ins Fahrzeuginnere, als würde sich eine Berglandschaft auftürmen. Jedes Detail im Sichtfeld wird getaggt, sogar welche Bäume am Straßenrand stehen. Wo auch immer sich unsere Augen hinbewegen, kleben virtuelle Post-its. Gefährliche Kurven oder Baustellen erscheinen durchsichtig, sodass wir schon erkennen, was als Nächstes kommt: die Zukunft, unfallfrei hoffentlich. Die Jetsons konnten in den 60ern ihre fliegende Untertasse übrigens nach Gebrauch zu einer Tasche zusammenklappen. Beim „Vision One-Eleven“ ruht die Brand-eigene Handtasche griffbereit unterm Glasdach. Mit diesem Fahrzeug würde man selbst in Kampen noch Aufsehen erregen. Es muss nur noch Realität werden.