Auf zu neuen Höhen: Die Haute Joaillerie vereint Handwerk, Wissenschaft mit Kreativität und Magie. Wir haben ins Kästchen geschaut.
GLANZ GESCHMEIDIG
Die Taschenspieler
Die „Kelly Bag“ von Hermès, mit nur wenigen Elementen ist sie zur Legende geworden: Die trapezförmige Form, zwei seitliche Schlaufen, eine runde Drehschließe, eine Metallplatte, vier Nägel, ein Vorhängeschloss und ein Schlüsselanhänger. „Das Prinzip übertrage ich nun auf die Kellymorphose, indem ich diese Elemente dekonstruiere und mich an ihnen austobe“, sagt Pierre Hardy, der Schmuckdesigner des Hauses. Aus der Ledertasche wird so eine ganze Schmuckkollektion: Bei der „Kelly Gavroche“ legen sich die Lederschlaufen locker um den Hals der Trägerin, nur in Weißgold und 1771 Diamanten mit 74,32 Karat. Beim „Précieux Kelly Sautoir“ wird die Tasche selbst zum Mini-Anhänger, gefertigt in Roségold, Weißgold mit 1,72-Karat-Diamanten. Pierre Hardy wäre nicht Pierre Hardy, wenn er dieser Konnotation von Chic und Eleganz bei seiner Kellymorphose nicht auch mit Augenzwinkern den Hals umdrehte: Kelly kann auch Punk! Der „Baguettes Choker“ wirkt wie ein schwarzes Hundehalsband de luxe: Roségold besetzt mit 487 schwarzen Spinellen und 62,63 Karat. Die in der Subkultur beliebten industriellen Rundstahlketten werden in der „Kelly Chaîne“ zum eleganten, doppelt gewickelten Kettenarmband aus Roségold, die Kelly-Schließe als Blickfang ist mit 41 Diamanten besetzt.
Und: Die Kellymorphose gibt es auch in Street-Style-Version. In der „Alphakelly“-Linie sind Ketten, Vorhängeschlösser, Drehschließen in massivem Silber gefertigt. Günstiger als das Taschen-Original und mindestens drei Umdrehungen provokativer.
AUS DEM SCHMUCKKÄSTCHEN GEPLAUDERT
Messika by Kate Moss. Motto: Let’s rock the traditions. Valérie Messika zieht ungewöhnliche Haute-Joaillerie-Stücke hervor, die ganz neue Formen und Einsatzmöglichkeiten vorschlagen: indisch anmutende Stirnketten oder Body-Chains, die quer über einem nackten Rücken getragen werden. Zwei-Finger-Ringe, über die ganz leicht wirkende Federn aus Diamanten zu wehen scheinen.
Kate Moss ist für Messika schon seit einigen Jahren die perfekte Werbeträgerin. „Vor etwa zwei Jahren trafen wir uns erstmals persönlich und sie stellte mir extrem kundige Fragen zu meiner Kollektion“, erzählt Valérie. So erfuhr sie, dass Kate Moss selbst eine große Schmucksammlerin ist: von High Jewelry über indischen Schmuck bis Vintage aus der Art-déco-Zeit. Ob sie Lust hätte, selbst mal zu entwerfen? Kate Moss hatte – und so reiste Valérie nach London, um mit ihr das private Schmuckkästchen zu inspizieren und zu dechiffrieren: „Eklektisch, mühelos, bohemehaft, ungezwungen.“ Genau so sollen die Schmuckstücke wirken. Eklektisch sind auch die Materialien, mit denen die Diamanten kombiniert werden: Gelbgold, grüner Malachit, schwarzer Onyx, Türkise oder Perlmutt.
Da beide Frauen keine begnadeten Zeichnerinnen sind, aber sehr genau wissen, was sie wollen, näherten sie sich der Aufgabe mit Moodboards und Papierbasteleien, die sie sich an Hände oder Ohren hielten und von einer geübteren Hand in eine Zeichnung übersetzen ließen. Das Ergebnis: eine Kollektion, die mehr ist als nur ein weiteres Name-Branding. In den 60 Stücken scheint wirklich der Stil von Kate Moss destilliert zu sein.
ITALIENISCHES UPCYCLING
Zum Beispiel „Melody of Chains“: Eine lange, mehrreihige Halskette aus mattgoldenen Kettengliedern, zusammengehalten von einer Sicherheitsnadel und bestückt mit einem schwarzen, goldgemaserten Jett. Ein untypisches Sautoir, wie man es in der Welt der Haute Joaillerie noch nicht gesehen hat. „In diesem Unikat haben wir diverse Steine und Details aus vier Jahrzehnten Pomellato-Geschichte zu einem ganz neuen Design zusammengefügt“, erklärt Kreativdirektor Vincenzo Castaldo im „Hôtel de Crillon“, wo Pomellato seine „La Gioia“-Kollektion präsentierte. Die goldene Sicherheitsnadel stamme von 1994, die schmaleren Goldglieder aus der Victoria-Kollektion von 2006, die fein ziselierten aus der „Arabesque“-Kollektion von 2013 und der schwarze, goldgeaderte Jett-Stein aus der Kintsugi-Kollektion von Anfang 2021.
Der Ausdruck Kintsugi kommt aus dem Japanischen: „Kin“ für Gold und „tsugi“ für flicken. Normalerweise eine traditionelle Reparaturtechnik für Keramik aus dem 15. Jahrhundert, mit der zerbrochenes Geschirr kunstvoll wieder zusammengeklebt und die Risse mit Adern aus Goldpulver sichtbar werden. Der Makel wird zum Adel – nach demselben Prinzip ließ Castaldo auch imperfekte, geborstene oder gebrochene Edelsteine wie Jett oder Kascholong, die normalerweise aussortiert werden, von Kingtsui-Meistern mit Gold veredeln. „Etwas Zerbrochenes durch das Ritual des Reparierens noch wertvoller zu machen, Narben als Zeichen der Stärke zu feiern – ich finde, diese alte Philosophie ausgesprochen modern und faszinierend.“ Die eklektischen „La Gioia“-Schmuckstücke aus Alt und Neu seien „eine pure Freude für mich, so echte Nachhaltigkeit zu leben, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen. Und natürlich auch, die Regeln der High Jewelry ein bisschen auf den Kopf zu stellen.“
WO GEHT’S DENN HIER ZUM PARADIES?
Die Red-Carpet-Kollektion „Le Paradis“ von Chopard tanzte gleichzeitig auf zwei Hochzeiten: Am Place Vendôme und auf den Filmfestspielen in Cannes. Beide Events liefen pandemiebedingt parallel – und so reiste ein Teil der 74 Prachtstücke an die Côte d’Azur und ein
Teil in die Boutique an der Pariser Place Vendôme. Der schöne Subtext: Paradiese kann man auch teilen. Kreativdirektorin Caroline Scheufele schöpft – was Form, Farbe und Volumen angeht – aus dem Vollen. Mehr ist einfach mehr: Ein fast pflaumengroßer Ring mit einem 26,43-karätigen schwarzen Opal aus fair gefördertem Weißgold und bestückt mit Dutzenden von Titanblüten, auf denen gelbe Saphire von 1,45 Karat blitzen. Oder ein opulentes Manschettenarmband, das wie eine Stickerei in Paisley-Muster aussieht, eine Farbexplosion, wie man sie in intakten Korallenriffen findet: nicht weniger als Tsavoriten von 61,9 Karat, pastellfarbene Saphire (27,72 cts), Turmaline (25,60 cts), Tansaniten (25,60 cts), Diamanten (14,27 cts), weiße Opale (13,60 cts), Kunzit (12,94 cts), Amethyste (10,90 cts), Mandarin-Granate (5,59 cts), Aquamarine (3,89 cts), Paraiba-Turmaline (3,18 cts), Berylle (2,73 cts), rosa Quarz (2,61 cts), Topaze (2,24 cts), Citrine (1,39 ct) und Rubine (0,26 ct) funkeln um die Wette. So bunt und üppig hat man Chopard selten gesehen. „Jeder hat unterschiedliche Vorstellungen von seinem persönlichen Paradies“, sagt Caroline Scheufele. Die Kollektion huldigt all diesen Glücksorten: Märchenländer, das Meer, der Wald, Flora oder Fauna. Das teuerste und verspielteste Stück ist das Dog-Collier: Eine Hundeparade auf 22 extragroßen, verschiedenfarbigen Tahiti-Perlen. Unter den 13 naturgetreu in schwarzen, braunen, gelben oder weißen Diamanten nachempfundenen Rassetieren, vom Neufundländer über einen Bernhardiner bis zum Chihuahua, darf natürlich auch ein Cavalier King Charles Spaniel nicht fehlen. Ihr Liebling „Byron“ folgt Caroline Scheufele auf Schritt und Tritt.