Lippenstifte von Hermès

Emblematisch

Lippenstifte gelten eher als Massenprodukt. Insofern war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass Hermès in dieses Geschäft einsteigen würde. Andererseits liegt die Kunst im Detail.

Eine kleine Seitenstraße im achten Arrondissement. Der genaue Ort der Hermès-Zentrale in der Pariser Innenstadt ist ein gut gehütetes Geheimnis. Weder der nüchterne Empfang noch die hölzerne Rezeption würden vermuten lassen, dass hier der Inbegriff von Luxus anzutreffen ist. Erst der Blick nach links in den Wartebereich mit den gelben Sofas, Sesseln und vor allem den vielen Illustrationen, die man von den berühmten Carrés kennt, an den Wänden, lässt erahnen, wo man sich befindet. Neben den Showrooms ist auf sieben Etagen die gesamte Kommunikationsabteilung von Hermès untergebracht, unterm Dach des großen Stadthauses empfängt an diesem grauen Novembertag Pierre-Alexis Dumas seine Gäste. Wenige Journalisten aus aller Welt wurden eingeladen, eine Fahrt ins Ungewisse. Die fünfseitige Erklärung, bis Februar Stillschweigen zu wahren, musste im Vorhinein unterschrieben werden. Das machte die Sache natürlich noch spannender.

Pierre-Alexis Dumas, der in sechster Generation das Familienunternehmen führt, hat bereits in dem hellen Raum Platz genommen, durch dessen große Glasfront man auch den Eiffelturm entdecken kann. Auf einem Beistelltisch steht ein rechteckiger Standspiegel mit einer kleinen integrierten Uhr. Dumas klärt auf: „Mein Urgroßvater Émile kreierte den Spiegel 1928 für seine Frau Julie. Anscheinend verbrachte sie seiner Meinung nach zu viel Zeit mit dem Schminken, also fügte er eine kleine Uhr hinzu.“ Sagt es und schmunzelt. Aber das, was er nun präsentiere, habe nur bedingt mit jenem Spiegel zu tun. Denn es gibt jetzt auch bei Hermès Kosmetik. Klingt erst einmal unspektakulär für eine Luxusmarke. Aber für die Franzosen ist es ein neues „Métier“ eine große Sache. Zwei Jahre lang hat ein Expertenteam daran gearbeitet. „In meinem kurzen Leben bei Hermès – 25 Jahre – und in den 50 Jahren in meiner Familie habe ich nicht viele Einführungen neuer Métiers erlebt“, schwärmt Monsieur Dumas auf seine zurückhaltende Art.

 „Natürlich ist das nur ein Lippenstift, aber es geht uns um mehr. Es ist ein Objekt“ 

Pierre Hardy

„Diese Schritte sind für unser Haus von großer Wichtigkeit. Immer wenn wir ein neues Métier feiern, was der Geburt eines Neugeborenen gleicht, dann denke ich an all die Menschen, die Hermès aufgebaut haben und die nicht mehr unter uns sind, aber all das möglich gemacht haben. Ich hoffe, wenn sie heute auf uns schauen, denken sie: ‚Gut gemacht.“ Dumas schaut zu seinen Nachbarn, die er „meine Freunde“ nennt: Bali Barret, künstlerische Leitung des Damen-Universums, Pierre Hardy, Kreativdirektor für Schuhe und Schmuck, und Jérôme Touron, Kreativdirektor Hermès Kosmetik. Nur Hausparfümeurin Christine Nagel fehlt.

Gemeinsam haben sie „Rouge H“, die erste Lippenstiftkollektion des Hauses, kreiert. Bali Barret ist die Herrscherin über das Farbenbuch, in dem sorgfältig ausgeschnitten 75.000 kleine Lederpatches kleben. Pierre-Alexis nennt es ehrfurchtsvoll „die Bibel“. Und nun werden diese Farben auch bei Lippenstiften angewendet. Nicht alle, versteht sich. „Denn eine Farbe funktioniert vielleicht auf einem Carré, aber nicht unbedingt auf den Lippen. Seide und Haut sind definitiv nicht dasselbe“, berichtet Bali vom Lernprozess. Sie selbst trägt „Rouge Casaque“, ein blaustichiges Rot, passend zu ihrer eleganten Garderobe. Parfüms, Seifen und Körperlotionen produzieren die Franzosen seit Jahrzehnten, nun kam letztes Jahr die dekorative Kosmetik dazu.

Bali Barret, künstlerische Leitung des Damen-Universums
Pierre Hardy, Kreativdirektor für Schuhe und Schmuck bei Hermès
Jérôme Touron, Kreativdirektor Hermès Kosmetik

„Natürlich ist das nur ein Lippenstift, aber es geht uns um mehr. Es sind Objekte“, sagt Hardy. Handgefertigte Hüllen aus Lack, Messing und Metall und zwölf Einzelteilen, kreiert von Pierre Hardy. Der Nachhaltigkeit entsprechend, die schon immer Zeitgeist bei Hermès war, entwickelte er mit dem Hausingenieur eine Verpackung, die Hüllen lassen sich nachfüllen. „Und der Lippenstift kommt in der wohl entzückendsten kleinen orangefarbenen Box, die wir je hatten“, wirft Bali Barret ein. Pierre Hardy sagt: „Ich habe noch versucht, sie zu überzeugen, die Box mal ausnahmsweise lila zu machen“, und fängt herzlich an zu lachen. Bali Barret nimmt einen der Lippenstifte in die Hand, ermahnt zur Stille, öffnet die obere Kappe – und mit einem satten Klock verschließt der Lippenstift im Nu. Drei Monate tüftelten sie allein an diesem Ton, der Wertigkeit verspricht. „Daran erkennt man die Handarbeit“, erklärt Pierre, das sei „Mikro-Ingenieurskunst. Für mich ist es das erste Mal, dass ich in dieser Sparte arbeite, ich glaubte zu wissen, was Präzision bedeutet und hätte mir nicht träumen lassen, wie viel davon in diesem kleinen Objekt steckt.“

Doch warum wählten sie einen Lippenstift für den Anfang? Um mit den Hausfarben zu spielen, hätte es doch auch Nagellack sein können? Für Hardy, dessen Passion eigentlich Schuhe sind, steht fest: „Lippenstift ist emblematisch. In diesem kleinen Objekt konzentriert sich Kosmetik und das, was sie ausmacht: Farbe, Textur und Material. Es ist auch eine super Gelegenheit, neue Kunden zu erschließen, denn in diesem kleinen Objekt können Sie alles erkennen, wofür Hermès steht. Und wie hat Émile Hermès, Enkel des Gründers, einmal gesagt: ‚Es müssen immer zwei Objekte in jeder Handtasche einer Frau sein: ein roter Lippenstift und ein Spiegel.’“ Außerdem könne man mit einem Lippenstift seine Persönlichkeit mit nur einem Strich verändern, wirft Bali Barret ein. „Ist das nicht magisch?“

Schön nachhaltig: Die Hüllen, diese sind eine limitierte Edition, lassen sich jederzeit neu füllen.

Die Franzosen starten mit 24 Nuancen (ein Hinweis auf die Adresse des Stammhauses in der Rue du Faubourg-Saint Honoré), weitere Farben und andere Produkte werden folgen. Aber erst wenn sie so weit sind, wenn es sich richtig anfühlt. Schnellschüsse oder marketinggetriebene Produkte soll es auch im Kosmetik-Métier nicht geben. Nicht nur äußerlich lässt sich der Unterschied zwischen glänzenden und matten Lippenstiften erkennen, sie sind auch unterschiedlich geformt. Jérôme Touron, der schon bei Chanel und Dior gearbeitet hat, erklärt: „Die matten Farben sind zugespitzt, die glänzenden rund geformt, um die Farbe großflächiger aufmalen zu können. Das Design hat natürlich einen Einfluss auf das Resultat. Das sind zwar Details, aber sie sind der Schlüssel zum Erfolg.“ Dass es auch einen in einer kleinen französischen Manufaktur hergestellten Pinsel gibt, um die Farben noch schöner aufzutragen, ist fast Nebensache.

Eine Frage muss jedoch noch gestellt werden: Wäre nicht eine Lederhülle logisch gewesen? Pierre Hardy hat jedoch einen Einwand: „Leder und Lippenstift passen meiner Meinung nach nicht zusammen. Das Fett, die Flecken, die ein Lippenstift hinterlässt – das hält nicht für immer. Lack und Metall schon.“ Aber in Planung ist bereits eine kleine, lederne Schatulle mit integriertem Spiegel. Dann gibt es neben Kelly Bags, Birkins und Co. auch endlich eine Tasche für den Lippenstift.

Text
Caroline Börger