FANTASTIC COLOUR

Gib mir die Hand

 Die Dinge begreifen: Bei Hermès dreht sich traditionell alles um das, was nur menschliche Hände leisten können. Die neue Creme- und Nagellack-Serie war da wohl überfällig.

Im Februar 2020, als noch keiner ahnte, was da tatsächlich auf uns zurollen sollte, hatte Pierre-Alexis Dumas, der Kreativdirektor von Hermès, zu einer Art Colloquium nach New York geladen, einen Tag lang im Kulturzentrum auf dem „Governors Island“. Präsentiert wurde in unterschiedlichen Vorträgen und Performances die Gedankenwelt zum sogenannten „Jahresthema“ der Franzosen:

„Innovation in the making“

Schlüsselwörter des neuen Jahrzehnts. Innovation und, „in the making“ doppeldeutig zu verstehen, als Machen, aber auch im Werden. Oder, wie Dumas es formulierte: „Innovationen liegen in den Köpfen und den Händen der Menschen.“

Zu den Referenten gehörte der britische Paläoanthropologe Ian Tattersall, der von 1971 bis 2010 die Anthropologische Abteilung im American Museum of Natural History in New York leitete. Anfang der 90er-Jahre hatte er in dieser Position über seine wissenschaftlichen Meriten hinaus für Aufsehen gesorgt, das ihm heute wohl weltweiten Social-Media-Ruhm einbringen würde.

Veranlasste er doch, dass die Skelette von vier Inuit, die 1896 von amerikanischen Forschern zur Vermessung und Befragung in die USA verschleppt worden waren und kurz darauf an Tuberkulose starben, endlich den Stammessitten gemäß in Grönland beigesetzt wurden. Tattersall, der 1971 in Yale promovierte, hat die Gabe, über Wissenschaft quasi in Netflix-Qualität zu sprechen. Man mochte ihm gern zuhören, als er über die Bedeutung und Rolle der Hände im menschlichen Entwicklungsprozess sprach.

Denken und Greifen führten vor gut 100.000 Jahren zum „Begreifen“. Bis dahin hatte der Homo sapiens eine hohe intuitive Intelligenz, aber dann entwickelte er recht plötzlich die Fähigkeit, nicht nur zu reagieren, sondern zu abstrahieren: „Was wäre wenn?“

Was den Menschen bis heute einzigartig macht. Das Bild dazu ist der Moment, als unsere Vorfahren merkten, dass man die Hände nicht nur zum Klettern einsetzen kann, oder eben, um sich von Ast zu Ast zu schwingen, sondern mit ihrer einzigartigen Anatomie, als filigran einsetzbares Werkzeug, das „Werkzeug aller Werkzeuge“, wie von Aristoteles überliefert. Und sie drücken die Verbindung zwischen dem Herz, dem Auge und dem Verstand aus. Die Verbindung zu Hermès ist auch naheliegend.

Die Franzosen sind der Inbegriff von Luxus, bezeichnen sich selbst aber lieber als Handwerker.

Den Grundstein legte 1837 Thierry Hermès, der Sattlermeister. Das Ross blieb stets Zugpferd der Marke wie die Nähe zum Reitsport. Man spricht dabei vom „an die Hand reiten“, wenn es gilt, die sogenannte Anlehnung des Pferdes zu erreichen, die sich in der senkrechten Kopfstellung des Pferdes ausdrückt. Diese Haltung zeigt ein Verhältnis zwischen Pferd und Reiter an, das ohne Zwang funktioniert. Geht ein Pferd „gegen die Hand“ heißt das wiederum, dass es dem Reiter an Fingerspitzengefühl mangelt.

Eine solche Bedeutung hat die Hand auch im Unternehmen. Sie sei, formuliert es Ménéhould de Bazelaire du Chatelle, Direktorin des Kulturerbes von Hermès, „ein Sensor. Die kleinste Abweichung, die kleinste Geste der Hand kann alles verändern. Um eine regelmäßige Naht anzufertigen, ist es wichtig, die Spannung gleichmäßig zu halten. Denn ist das Leder zu stark gespannt, kann es reißen. Die Handwerkskünstler schließen die Augen und fahren mit der Hand über ihre Arbeit, um Unebenheiten zu erkennen und sicherzugehen, dass die Lederstücke weich wie Seide sind. Bei Hermès lernt man, mit der Hand zu sehen.“ Pierre-Alexis Dumas formuliert die Beziehung so:

„Die Hand ist unsere Vertraute, unser Auge, unsere Identität. Sie hat kein Geschlecht, sie signalisiert Verhaltensweisen, ist unabdinglich, wie es der Name bereits verrät, für den Handwerkskünstler. Sie ist kraftvoll und zart zugleich. Die Hand kreiert, erschafft und schenkt Leben. Sie ist auch ein Symbol für unsere Beziehung zum Gegenüber. Wir sind das Haus der Hände. Als ultimatives Instrument des Menschen vermag es die Hand, zu verwandeln und uns miteinander zu verbinden.“ Auch wenn wir 2020 lernen mussten, dass Händeschütteln nicht länger das Kontaktritual der Stunde ist.

2020 war aber auch das Jahr, als die Franzosen ein ganz neues Segment aufnahmen, ein Metier, wie sie es nennen, die Beauté, zunächst mit einer Lippenstift-Kollektion. Und nun, warum nicht als gutes Omen, sind die Hände dran. Nagellack, Nagelöl, Handcreme, alles 98 Prozent öko-zertifiziert, auch Nagelfeilen gibt es. Die Deckel der Nagellackflakons (24 Farben) sind die Geschwister der Lippenstift-Verpackungen, die wiederum eine Verbindung zu den ikonischen Emaille-Armreifen des Hauses herstellen. Ja, es wird wirklich Zeit, sich wieder die – manikürte – Hand zu geben.

Große Auswahl: Die Hermès Nagellacke gibt es in 24 verschiedenen Farben. Teil der Serie sind neben einer Hermès Nagelpfeile auch Handcreme und Nagelöl

Text
Inga Griese