Shootingstar

Harris Dampf in allen Gassen

Zwischen Pop-Appeal und Demi Couture. Harris Reed ist in Pandemiezeiten das Unmögliche gelungen: Der Durchbruch.

Würde man die Geschichte von Harris Reed als Drehbuch anbieten, hieße es wahrscheinlich: viel zu übertrieben, total unrealistisch. Denn der Plot geht so: Ein britisch-amerikanischer Junge, der als Kind in Arizona oft gehänselt wurde, weil er lange Haare und pinkfarbene Polohemden trug, geht nach London, um an der bekanntesten Modeschule der Welt zu studieren. Dort sagt ihm eine Lehrerin auf den Kopf zu, dass aus ihm nie ein guter Designer werde, nicht einmal zum Assistenten werde es reichen. Glücklicherweise hat er ungefähr zur gleichen Zeit ein Treffen mit einem wichtigen Stylisten, der ausgefallene Entwürfe für einen Klienten sucht. Der wiederum entpuppt sich als Pop-Sensation Harry Styles und wird Reeds bester Kunde.

Bald klopft Gucci an, ob das androgyne, non-binäre Wesen mit den langen roten Haaren und weiten Schlaghosen nicht bei der Cruise Show 2019 in Arles als Model laufen wolle, um ihn danach gleich noch für eine Parfümwerbung zu buchen. Jetzt geht es nur noch bergauf: Reeds bedingungslos romantische Entwürfe sind in unzähligen Magazinen abgebildet, Stylisten und Einzelhändler klopfen an, obwohl er noch nicht einmal sein Diplom in der Tasche hat. Vorläufiger Höhepunkt: Harry Styles in Reeds‘ Smokingjacke mit Reifrock und Ballkleid aus pinkfarbenem Satin auf dem Cover der amerikanischen „Vogue“. Fashion-Olymp mit gerade mal 24 – willkommen im unwahrscheinlich guten Leben von Harris Reed.

Harris‘ Debüt Kollektion an dem Central Saint Martins College London
Illustrationen von Lukas Palumbo

Entsprechend aufgekratzt sitzt der 24-Jährige einige Wochen später in seinem Apartment in London vor dem Bildschirm. Reed ist überpünktlich fürs Interview und spricht rasend schnell. „Effektives selbst auferlegtes Sortiert-Sein“, wie er es nennt, um in diesem Wahnsinn, der über ihn hereingebrochen ist, noch halbwegs den Durchblick zu behalten. „Meine Mutter sagte neulich: ‚Honey, vergiss nicht, wir sind immer noch mitten in einer Pandemie, versuch Ruhe zu bewahren“, erzählt Reed, aber das ist einfacher gesagt als getan, wenn die Ereignisse sich keineswegs an irgendeinen Lockdown halten und sich stattdessen überschlagen. Vor kurzem war Miley Cyrus im Rolling Stone in seinen Glamrock-Plateaustiefeln zu sehen, die Sängerin Celeste und Selena Gomez tragen beide auf ihrem neuen Albumcover einen Perlen-Feder-Kopfschmuck beziehungsweise einen überdimensionalen schwarzen Hut von ihm und im Februar bringt die Kosmetikmarke MAC die limitierte, genderneutrale Edition „MAC x Harris Reed“ auf den Markt.

So viel Aufsehen um einen Nachwuchsdesigner gab es seit John Galliano oder Alexander McQueen nicht mehr, die bekanntlich ebenfalls am Central Saint Martins College studierten und mit ihren Debütkollektionen einen frühen Durchbruch schafften. Reeds Ansatz ist nicht weniger radikal, seine Handschrift sind meterweise Stoff, Rüschen und wagenradgroße Hüte. Vor allem sind die Grenzen bei ihm in jeder Hinsicht fließend, nicht nur, was die Geschlechter, sondern auch was die Genres angeht. „Für mich bedeutet ‚fluid‘ im Jahr 2021, dass es um ein Gesamtpaket geht: Du bist Kreativer? Mit einer Message? Dann raus damit! Egal in welchem Medium und auf welche Weise“, findet der Sohn eines amerikanischen Ex-Models und eines britischen Filmemachers. Mode müsse heute mehr denn je eine Botschaft haben, wer nur nach hübschen Sachen suche, sei bei ihm an der falschen Adresse. „Die Mode war auf dem besten Weg, langweilig zu werden.“ Jetzt gehe es endlich in die entgegengesetzte Richtung:

„Meine Generation kennt keine Regeln oder Grenzen, wir setzen uns für Gerechtigkeit und Inklusivität ein. Im Grunde bin ich nicht nur Designer, sondern auch Aktivist.“

Die letzten Wochen verbrachte Reed vor allem mit den Vorbereitungen für seine Fashion-Show am 18. Februar – die erste „richtige“, die natürlich so überbordend, romantisch und kompromisslos wie seine Mode werden sollte. Nur mit der glamourösen Gästeliste wird es vorerst nichts, es findet lediglich eine digitale Präsentation seiner „Demi Couture“ statt. Kann ja auch nicht immer alles wie geplant laufen. Aber am Ende macht das die Geschichte nur noch besser.

Demi-couture Collection

2021 London Fashion Week

BTS Film: Donny Johnson

Director: Jenny Brough

Producer by: Family Film

Styling: Harry Lambert

Hair: Ali Pirzadeh

Make Up: Terry Barber

Modell: Momo @SUPA

Boots: Harris Reed X ROKER

Hats: Harris Reed in Collaboration with Vivienne Lake

Jewellery: Missoma

Text
Silke Wichert