GRIECHISCHES SEIN

Viele Wege führen nach Athen: Von hier nahm die westliche Weltordnung vor 2500 Jahren Anlauf, um sich zu verbreiten. Heute zieht es wieder junge Leute und ihre Ideen von überall her in die Stadt. Wir fuhren auch hin und zeigen die Mode der neuen Saison aus einer Stadt im Aufbruch.

Der Sage nach erwuchs Athen aus einer mythischen Realityshow, in der die oder der bessere qua Publikumsentscheid gewinnen sollte: Die einst namenlose Siedlung am südöstlichen Zipfel des Landes gelegen, suchte nämlich nach einem Schutzpatron. Kandidat Nummer eins, Poseidon, der Meeresgott, und Kandidatin Nummer zwei, Athene, Göttin der Weisheit und der Künste, stellten sich dem Wettbewerb. Beide sollten die Bewohner durch Geschenke überzeugen. Poseidon setzte auf den Effekt: Mit seinem Dreizack öffnete er – ganz Show-Gott – eine Quelle. Gemäß seiner fachlichen Ausrichtung sprudelte aus dieser Quelle jedoch lediglich Salzwasser; das Publikum war nicht überzeugt. Man könnte Poseidon jedoch zugestehen, das antike Fundament für die lange Tradition gut gemeinter, aber nicht guter Geschenke gelegt zu haben. Die weise Athene wiederum machte ihre Aufwartung mit einem Olivenbaum. Er spendete Nahrung und Öl, war so gut wie unverwüstlich, aber wenn, dann gab er noch sein Holz her. Damit machte sie als Namensgeberin der Stadt das Rennen und bewies auch, dass Nachhaltigkeit keine neumodische Erfindung ist.

Am Tor zur Athener Riviera: Stilecht fährt man in den Küstenvorort Paleo Faliro, der in den 60er-Jahren hoch- gezogen und zu den Olympischen Spielen 2004 neu belebt wurde, mit der Tram. Model Roos Nieuwkerk trägt eine kragenlose Tweedjacke und Bermuda mit Kamelien, Spitzen- strumpfhose und Knautschlackstiefel. Alles von Chanel
Green Shopping: In Athen gibt es viele Märkte. Wir empfehlen den in Exarchia. Mohairmantel über Chiffonkleid: Marc Cain. Handtasche: Longchamp

Auch Mythen gibt es heute noch. Athen schleppt immer neue mit sich herum, die sich derzeit auf die Kernaussage „Athen ist das neue Berlin“ reduzieren lassen. Die deutsche Hauptstadt darf die Banderole „Arm, aber sexy“ an die griechische weiterreichen. (Berlin ist dafür jetzt Aspirantin auf „Autsch, ist das teuer“ und: „Heute nicht, ich hab’ Migräne.“) Das Online-Magazin „airmail“ erging sich unlängst jedenfalls in regelrechten Elogen über „Athen, die zufällige Hauptstadt auf der Suche nach Identität“. Auch wenn nicht ganz klar ist, was das genau bedeutet, überall wo irgendwer oder irgendwas auf der Suche nach Identität ist, ist es meist spannender als anderswo. In Athens Fall handelt es sich laut der Autorin um einen „Laufstall für Künstler und Hipster“. Bevor wir nun alle die Staffelei zusammenklappen, um nach Athen zu relocaten, wie es heute so schön heißt, und aufgeregt am Laufstallgitter rütteln, bietet es sich an, als Erstes auf einen der sieben Hügel der Stadt zu steigen – für das Gesamtbild. Ja, sieben Hügel. So wie Rom sie auch hat – übrigens das alte neue Athen mit vermutlich mehr Gemeinsamkeiten als Berlin. Stichwort: Antike. Deren Spuren erblickt man von oben besonders eindrücklich, da sieht der Hipster plötzlich ganz klein aus. Für das ICON-Cover ging es auf den 150 Meter hohen „Hügel der Musen“, den Philopapposhügel. Warum die Musen nicht im Laufstall sitzen wollen, leuchtet ein: Der Blick von hier oben auf die Akropolis und die Stadt ist ausschweifender als jede Künstlerparty.

Zurück in die Niederungen wählen wir den Weg über das an den Philopappou angrenzen- den Stadtteil Petralona, ein ruhigeres Wohnviertel, in dem sich eine unaufgeregtere Seite des Athener Lebens gut bei einer Tasse Kaffee beobachten lässt. Auch sehr typisch, wenn auch auf völlig andere Art, ist die Strandpromenade von Paleo Faliro im Süden der Stadt. Hier schlappt an einem Sommerabend alles entlang, was in Badelatschen passt: von den Teenagern über die Oma bis hin – nun ja, man ahnt es schon – zum Hipster. Ein ähnliches und absolut empfehlenswertes Szenario bietet der Wochenmarkt in Exarchia am anderen Ende der Stadt, das Viertel ist bekannt für Utopien aller Art mit historischer Anbindung: Das Archäologische Museum liegt gleich um die Ecke. Im Café-Restaurant „Ama Lachei“ gibt es bodenständige Küche feinfühlig zubereitet, die man im hauseigenen Garten zu sich nehmen kann.

An der Bar vom Restaurant „Pharaoh“ (Solomu 54): Mit Pailletten besetzter Oversized Blazer, Smoking- hose, Bandeau-Top: alles von Brunello Cucinelli. Lackleder-Mary-Janes: Aeyde.
Kurze Pause: Der Aufstieg auf den „Musenhügel“ Philopappos lässt sich auch in Etappen genießen. Rock aus fransigem Seiden-Velour, Bluse und Mary Janes: alles von Christian Dior
Griechisch, gastlich: Typischer Athener Innenhof mit Pflanzen und Blümchen- tischdecke. Paillettenbluse: Riani. Gestreifte Hose: Longchamp
Goldene Stunde: Straße im ruhigen Wohngebiet von Petralona, unterhalb des Philopapposhügel. Volantkleid aus Chiffon mit Feinstrickrolli darunter und über- großer Cardigan aus Jacquard-Mohair: alles von Etro
Alte Schule: Auf den Treppen der Kapodistrias- Universität. Wickelbolero über ärmellosem Rolli, plissierter Lurexrock und Strumpfstiefel aus Veloursleder: alles von Hermès
Vor griechischem Blau: Bomberjacke aus wattiertem Satin über Spitzen-BH, Korsage, Smokinghose und High Heel Sandaletten: alles von Dolce & Gabbana
Puzzlestücke: Terrazzoboden im Concept-Store Mouki Mou. Bleistiftrock aus genarbtem Leder, Kitten Heels mit Origamidetails und Boxbag: alles von Prada
Schöne Aussicht: Auf der Dachter- rasse des Concept-Stores Mouki Mou. Shift-Kleid mit Marabufedern und Sandaletten aus Lammfell: Sportmax
Inselschönheit: Die Häuser im Stadtteil Anafio- tika liegen direkt unterhalb der Akropolis und sind im kykladischen Baustil errichtet. Jump- suit mit superweiten Volants und Lederbesatz, Bolero-Weste: alles von Giambattista Valli
Überblick: Dachterrassen werden in Athen gern als Freiluftwohnzimmer genutzt. Diese hier ist im Stadtteil Thiseio. Kimonojacke, Bandeau-Top und weite Hose aus Satin: alles von Giorgio Armani

Wer es lieber monumental oder museal mag, der kann in Athen unendlich viel Zeit versenken. Akropolis und Parthenon sind nur das Pflichtprogramm. Aber es lohnt sich auch, mehr als 2000 Jahre zu überspringen. Im späten 19. Jahrhundert erlebte Athen ebenfalls eine bauliche Blütezeit. Man könnte sich auf die Spuren von Ernst Ziller begeben, einem aus Sachsen stammenden Architekten, Archäologen und Generalgelehrten sowie Epigonen Schinkels (Hallo, Berlin!), der in Griechenland über 500 öffentliche und private Gebäude errichtete, darunter die Nationalbibliothek, das Grandhotel Bretagne, die Nationalbank oder das Nationaltheater.

Kykladisches Inselflair gibt es ebenfalls mitten in der Stadt, unterhalb der Akropolis in Anafiotika, wo sich Häuschen an den Hang schmiegen. Kein Geheimtipp, aber der Weg ist das Ziel, was in diesem Fall der nahegelegene Conceptstore Mouki Mou ist, ein minimalistisches Gesamtkunstwerk an der Schnittstelle zwischen Boutique und Galerie. Cool und kühl, was im Athener Sommer ein entscheidender Faktor ist.

Auf der Promenade: Der Stadtstrand liegt in Paleo Faliro. Ge- steppter Nappaleder Mini mit passender Jacke, darüber ein Glencheckblazer. Bo- dysuit mit hauchzar- tem Tülleinsatz und Monogramm. Gürtel mit XXL-Schließe. Alles von Louis Vuitton

Ansonsten ist Athen eher keine Shopping- Stadt, was im Kontext des Konsumdrucks der sonst in europäischen Hauptstädten herrscht, erfrischend ist. Für Kunsthandwerk empfiehlt sich der Museumsshop im Kykladischen Museum. Das allerbeste Preis-Leistungs-Verhältnis findet sich jedoch für Foodies in den zentral gelegenen Hallen des Fleischmarkts, der kein Ort für schwache Nerven oder Tierschützer ist. Hier gibt es an einem der Eingänge eine winzige Gyros-Pita-Bude, deren Außen-fluffig- innen-knusprig-Pitas für kleinstes Geld allein eine Reise nach Athen wert wären. Punktlandung. Der Döner verhält sich dazu wie ein tropfender Klops. Und wenn es einen doch weiterzieht? Am schönsten verlässt man die Stadt ab Piräus, wo der Hafen liegt, per Schiff. Poseidon, übernehmen Sie!

FOTOGRAFIN
SANDRA SEMBURG
MODEL
ROOS NIEUWKERK
STYLING
BIRGIT SCHLOTTERBECK
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HEIKE BLÜMNER
HAARE
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MARITA POLITOU C/O BEEHIVE ARTISTS
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UTE MÜLLER
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LEONIE CELLE (STYLING), KATERINA GORITSA (FOTO)