Design-Legende

One of a kind

Der Designer, Architekt und Künstler Gaetano Pesce legt sich weder auf Materialien noch auf Disziplinen fest. Auf der Seite der Frauen stand der Italiener schon immer. Ein Treffen in seinem New Yorker Studio.

Eigentlich passt er hier nicht hin. Dieser leicht gebückt gehende Herr mit dem weißen Bart und der transparenten Brille, der da langsam die Straße entlanggeht, Professorentyp, im knitterfreien Trenchcoat und braunen Slippern. In Venedig oder in Mailand würde man ihn eher verorten, in einer dieser italienischen Städte, in denen Männer so selbstverständlich elegant aussehen, weil sie seit Jahrzehnten auf den immer gleichen Schneider vertrauen und die perfekte Kaschmir-Strickjacke in zehn verschiedenen Varianten besitzen.

 

Die kühnen Formen spiegeln einen Geist wider, der immer in Bewegung ist: Gaetano Pesce in seinem Studio in Soho.

Doch Gaetano Pesce spaziert nicht durch Mailand, sondern durch Soho, New York. Es regnet in Strömen, und man lässt den Designer, Künstler und Architekten lieber in Ruhe die Tür zu dem Gebäude am Broadway aufschließen, in dem sich sein Büro und Studio befinden. Erst, als er im Inneren verschwunden ist, geht man selbst zum Eingang, um auf die Klingel neben dem Schild mit der Aufschrift „Pesce Ltd.“ zu drücken.

Oben im fünften Stockwerk begrüßt Anna, Pesces sehr hübsche blonde Assistentin. In diesem Studio, einem Hybrid aus experimenteller Bastelwerkstatt und Kuriositätenkabinett, wirkt die ganz in Schwarz gekleidete Minimalistin wie eine strenge Linie in einem Pollock-Gemälde.

Da hängen wie aus knallroten Luftblasen bestehende Gummislipper an den Wänden, die Regale sind vollgestellt mit buntem Krimskrams, Zeichnungen, golden gerahmten Familienfotos. Speckig glänzende Vasen aus farbigem Kunstharz sehen aus, als würden sie sich gleich in Glibbermonster verwandeln, der berühmte kurvige Sessel „Up“ macht sich so breit wie ein riesiges Gummibärchen. Dieses Allerlei fühlt sich so natürlich und harmonisch an, dass die vier Frauen, die an ihren strengen Apple-Computern arbeiten, wie Fremdkörper anmuten.

 

Das Studio des Maestros. Im Hintergrund auch der Sessel aus der „Up“ Serie

 Alles, was Gaetano Pesce und seine Arbeit seit Jahrzehnten ausmacht und ihn weltberühmt gemacht hat, ist hier drin: der Humor, die ulkigen Formen, die mutigen Material-Experimente und die Vielfalt an Objekten, Medien und Darstellungsformen, zwischen denen er ständig hin- und herwechselt.

In seiner Karriere, die fast sein gesamtes 81-jähriges Leben umspannt, hat Pesce Gebäude erbaut, Skulpturen geformt, Hotels eingerichtet, an mehreren Universitäten unterrichtet, Möbel und Wohnobjekte entworfen. Dabei war der Italiener ständig auf Reisen, doch seit 1980 lebt und arbeitet Pesce in New York. Kein Wunder, dass er explizit danach fragt, die Klimaanlage einzuschalten. „Ist ganz schön warm hier drin“, sagt er, nachdem er sich auf „Notturno“ gesetzt hat, ein Sofa mit einer mondförmigen Rückenlehne und Armlehnen, die wie Wolkenkratzer aussehen. Die New Yorker Skyline im Mondschein.

Kein Wandbild, sondern ein Sofa in Form der Skyline bei Nacht ist „Notturno a New York“ von Cassina

 

Pesce entwarf „Notturno“ 1980 für Cassina, der italienischen Möbel- und Designmarke, die ihn seit seiner Jugend begleitet. Schon als Student an der Architekturschule von Venedig lernte er Cesare Cassina kennen, Chef und Gründer der Firma, ein „Industrieller, der nach der dritten Klasse von der Schule gegangen ist und seine Karriere selbst in die Hand nahm“, sagt Pesce. „Wir beide mochten das Konkrete, ohne viel Geschwätz. Deswegen haben wir uns so gut verstanden.“

Pesce erzählt viel und sichtlich gerne. Wenn er ein bestimmtes Stück erwähnt, händigt ihm Anna ein Blatt mit dem ausgedruckten Foto des Entwurfs oder Bauwerkes aus. Nur wenn er für den Fotografen posieren muss, verdüstert sich sein Blick. Seine Möbel und Designobjekte sind bis heute begehrte Sammlerstücke, so wie der „Feltri Armchair“. Der Thron-ähnliche Sessel, dessen mit Filz bezogene Rückenlehne sich trapezförmig zur Seite ausbreitet, wurde in diesem Jahr vom Modehaus Calvin Klein mit amerikanischen Vintage-Quilts für eine Sonderedition neu gestaltet. Natürlich ist alles limitiert, natürlich sind alle 100 Stühle „one of a kind“.

Verknappung und Individualisierung lautet das aktuelle Erfolgsrezept der modernen Lifestyle-Welt, in der Kunden selbst für einen limitierten Turnschuh Tausende von Euro ausgeben und ihre Initialen auf Designerkoffer drucken lassen. Doch das Konzept von Design als etwas Einzigartigem, etwas Originellem, dessen Wert über die Funktion hinausgeht, hat Pesce früh etabliert und populär gemacht.

Mit Cassina gelang es ihm, Stücke in Serie produzieren zu lassen, die sich alle voneinander unterschieden. Wie den „Sansone Table“ von 1980, ein Tisch aus Kunstharzen in unterschiedlichen Farben, die während der Produktion ineinander verschmolzen und so jedes Mal unterschiedliche Muster ergaben. „Vorher schuf man nur Kopien, plötzlich waren es alles Unikate.“ 1972 gründete er „Bracciodiferro“, ein Büro für Experimentaldesign, in dem er sich mit der Unterstützung von Cesare Cassina kreativ austoben konnte.

 

 Hier macht Pesce seine ersten Versuche mit Kunstharz, und er holte andere Künstler ins Boot, wie Alessandro Mendini, „weil der nicht so richtig wusste, wohin mit seiner Kreativität“, oder Ricardo Porro, den kubanisch-französischen Architekten und Erbauer der Kunstakademie in Havanna, der einen Hocker in Lippenform entwarf.

„Als würde er den Hintern der Person küssen, die sich auf ihn setzt. Das waren Stücke, die eine Botschaft hatten.“

Die Botschaft, die Emotion, der Gedanke. Für Pesce kann ein Stuhl oder ein Sessel all diese Dinge in sich tragen. „Irgendwann habe ich verstanden, dass der Schritt vom Design zur Kunst ein sehr kleiner ist. Man musste dem Objekt nur eine politische, philosophische oder religiöse Bedeutung geben, und aus Design wird Kunst.“ Er hat sich der Kunst immer auf zwei Wegen genähert: Ästhetisch, weil seine poppigen Objekte meist mehr mit Skulpturen als mit Gebrauchsobjekten zu tun haben, und inhaltlich, weil er mit seinen Designs immer zum Nachdenken anregen will. Einer seiner ersten große Erfolge war der bereits erwähnte Sessel „Up“ für B&B Italia, ein aufblasbares üppiges Sitzkissen aus einem schaumigen Kunststoff voller Beulen und Ausbuchtungen, dessen Form an einen geknechteten Frauenkörper erinnern sollte. Samt kugeligem Fußkissen, als Symbol für die Sträflingskugel, die die Frau bremst.

„Männer haben Angst vor Frauen, sie haben Angst davor, ihre Position im Mittelpunkt des Universums zu verlieren, was ja gerade passiert. Und dann verhalten sie sich wie ängstliche Hunde: Sie werden gefährlich, gewalttätig . Die Frauen werden folglich zu Opfern, zu Sklavinnen“, sagt Pesce. In den 60er-Jahren eine radikale und ehrliche Botschaft für einen männlichen Designer, und heute ist sie aktueller denn je. Pesce empfindet bereits seit seiner Kindheit Bewunderung und Wertschätzung für die weibliche Herangehensweise. Er trägt zwei Eheringe, für die zwei Partnerinnen, die in seinem Leben besonders wichtig waren. Seinen Vater, einen Marineoffizier, verlor er bereits im Grundschulalter, seine Mutter ging daraufhin in ihren Geburtsort in Venetien namens Este zurück und zog ihren Sohn alleine auf.

„In der vierten Klasse gab ich einem Lehrer eine Ohrfeige. Glücklicherweise musste meine Mutter mich von der Schule nehmen, und die einzigen, die mich dann noch haben wollten, waren die Nonnen an einer Mädchenschule.“ Der kleine Pesce merkte schon damals, dass die Frauen mit den Hauben anders tickten als die Männer.

Ausladend, opulent, kurvenreich: Aus der Serie „Up“ für B&B Italia.“La Mamma“ von Gaetano Pesce hat Designgeschichte geschrieben

 „Ich lernte eine Welt kennen, die mir fremd war. Eine Welt, die mir viel elastischer vorkam als die der Männer, also weniger rigide, weniger linientreu.“

Kunstvoll, kreativ: Details im Studio

Diese Elastizität sei es, die die moderne Gesellschaft brauche, findet Pesce. Frauen, die sich in seinen Augen weniger an Prinzipien festkrallen, die sich besser anpassen können, offener für Veränderungen sind. „Die Werte unserer Zeit widersprechen sich ständig, sie tauchen auf, verschwinden wieder, es ist ein Auf und Ab wie bei einer Welle. Diese Fluidität passt zur Mentalität der Frauen, die ebenso fluid ist.“

Wenn Pesces eigener Geist auf die Frauen in seinem Leben zurückzuführen ist, könnte er recht haben. Die größten Ideen kamen ihm stets einfach so, ein Schwamm unter der Dusche inspirierte ihn zu „Up“, ein nasses Stück Filz auf dem Gehweg zu „Feltri“. Auf seiner jüngsten großen Ausstellung, die bis zum vergangenen September in Padua lief, war eine Matratze in Form eines Männerprofils zu sehen. „Sie heißt ‚Der Mann der schläft‘. Denn das tut er heute ja.“

Auch Pesce dürfte sich in seinem Alter sicher mehr Ruhe gönnen, doch er hat wenig Interesse daran. In den Brooklyn Navy Yards, einem riesigen Hafengelände in Brooklyn, führt er eine größere Werkstatt, in der mehrere Mitarbeiter an seinen Objekten tüfteln. So viele Projekte stünden an, eine Ausstellung in New York im November, eine in Brüssel im März.

Seine Neugierde sei es, die ihn „immer wieder antreibe“, sagt Pesce. „Ohne die sind wir erledigt.“

Text
Silvia Ihring
Fotos
Kyle Knodell