Farewell, Pierre Cardin!

Luxus, Lidl und Lizenzen

Einer der letzten großen Modeschöpfer des 20. Jahrhunderts ist mit 98 Jahren gestorben: Pierre Cardin. Ein Nachruf auf einen Querdenker .

Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt im September anlässlich des 70-jährigen Firmenjubiläums im Théâtre du Châtelet, währenddessen auch der Dokumentarfilm „House of Cardin“ gezeigt wurde, schien ihn das dunkelblaue Sakko fast zu verschlucken, so schmal und gebrechlich war er. Ungebrochen jedoch sein Wille und sein beißender Witz.

Über 60 Jahre lang hat Pierre Cardin die Modegeschichte des 20. Jahrhunderts mitgeschrieben. In Deutschland verbindet man seinen Namen vielleicht nicht so sehr mit hochpreisiger Haute Couture und epochenprägender, futuristischer Weltraum-Mode als mit günstigen Produkten, die uns in Kaufhäusern, Drogeriemärkten oder Discountern begegnen: Sein Name zierte Geschirr, Unterhosen, Socken, Jeans, sogar Bratpfannen und Regenschirme. Pierre Cardin war der König der Lizenzen, um die 850 soll er laut eigener Aussage Zeit seines Lebens vergeben haben. Sein größter und wichtigster Partner ist seit 1992 die Ahlers AG aus Herford, der zweitgrößte, börsennotiere Männermode-Hersteller Europas.

Er war nicht nur ein visionärer Modeschöpfer, sondern vor allem auch ein gewiefter Unternehmer, der viele Entwicklungen des Modemarktes vorweg nahm. Ein Business-Pionier ohne Standesdünkel. „Ich bin der größte Sozialist unter den Kapitalisten“, sagte er mir bei unserem letzten persönlichen Interview im südfranzösischen Lacoste. „Was ich immer wollte, ist Design für die Menschen auf der Straße erschwinglich zu machen, Design zu demokratisieren.“ Die ganze Unterscheidung von Luxus- und Massenprodukten sei ihm ohnehin komplett unverständlich, meinte er kokett: „Warum soll ein Parfum Luxus sein und eine Bratpfanne, in der man wunderbar duftende und wohlschmeckende Gerichte produzieren kann, nicht? Es ist doch alles nur eine Frage von Psychologie. Kaviar ist nicht besser als Porree. Warum soll etwas wertvoller sein, nur weil es teurer ist? Allein auf die Kreativität kommt es an.“

Während die meisten Kreativen eher schlechte Unternehmer sind, kam bei Pierre Cardin beides zusammen: Talent und Geschäftssinn. Er war ein Selfmade-Milliardär, dessen Unternehmen angeblich nie Schulden gemacht habe und auch nie einer Holdinggesellschaft angehörte. Geboren am 2. Juli 1922 als Pietro Costante Cardin in Italien, kommt der Sohn eines Weinhändlers mit zwei Jahren nach Frankreich. Mit 24 Jahren arbeitet Pierre Cardin bei Elsa Schiaparelli, wo er 1946 die Kostüme für den Jean- Cocteau-Film „Die Schöne und das Biest“ entwirft. Theater, Film und Tanz, so verriet er mir in Lacoste, seien eigentlich seine wahren Leidenschaften gewesen. Daher habe er immer Theater- und Konzertbühnen gekauft, unterstützt oder bespielt – wie auch dort in Lacoste das ehemalige Schloss des berüchtigten Marquis de Sade. In der Espace Pierre Cardin in Paris gab 1973 Marlene Dietrich eine ihrer letzten Konzertreihen. Der Mann, der sonst vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, war aber auch ein Realist: „Nicht der Schauspieler oder Tänzer Pierre Cardin hätte sich das Schloss von Marquis de Sade kaufen können, sondern der Modedesigner. Ohne die Mode wäre ich nicht hier.“

Mit Jeanne Moreau
Mit Jeanne Moreau
Palais Bulles
Palais Bulles

1946 heuert er als Designer bei Christian Dior an, ist drei Jahre für die Mäntel und Kostüme zuständig – und prägt dabei den „New Look“ mit, für den Dior so berühmt wurde. Auf die Frage, wem nun die Autorenschaft gebührt, antwortete er vieldeutig: „Natürlich Herr Dior – so wie Sie den Artikel schreiben und nicht die Zeitung sind.“ Kurz darauf gründet er sein eigenes Haute-Couture-Haus. Als er die erste Männermodenschau 1958 in Paris zeigte, musste er Studenten anheuern – Männermodels gab es noch nicht.

Ein Jahr später schockierte er die elitäre Branche, als er als erster eine Prêt-à-Porter-Kollektion für das Kaufhaus „Printemps“ entwarf – 45 Jahre vor Karl Lagerfeld und seinem H&M-Coup. „Man sagte mir, in einem Jahr sei mein Couture-Haus Geschichte“, lächelte er. „Und siehe da: Ich bin der einzige, der immer noch da und immer noch sein eigener Boss ist.“ 1964 erfindet er den Look der Beatles und ist Ausstatter der Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone“ mit Patrick MacNee als John Steed und Diana Rigg als Emma Peel in den Hauptrollen. Die Swinging Sixties liebten seinen futuristischen Stil, dem er bis heute treu geblieben ist: Bis zuletzt hat er jedes Jahr zwei Kollektionen entworfen, die in seinen zwei Pariser Boutiquen heute noch verkauft werden.

Das einzige, was er in seinem Leben bedauert habe, so verriet er mal einer französischen Zeitung, sei mit seiner angebeteten Schauspielerin und Freundin Jeanne Moreau keine Kinder bekommen zu haben. So hinterlässt Pierre Cardin nun keinen Nachwuchs, doch ein gigantisches Vermögen aus Restaurants, Hotels, Lizenzgeschäften und hochkarätigen Immobilien – vom Palazzo Casanovas in Venedig, über das Schloss in Lacoste bis zum futuristischen Palais Bulles an der Côte d’Azur – und sein Museum im Pariser Marais, das er sich schon zu Lebzeiten einrichtete. Was damit geschehen soll? Pierre Cardin träumte mal von einer Stiftung, die Krankenhäuser bauen soll, um das Leid der Welt zu verringern. Der, der in so vielem der Erste war, verließ nun die Bühne als einer der letzten großen Namen der modernen Modegeschichte.

Text
Silke Bender