Zerstörte Städte prägten die Kindheit von Anselm Kiefer. Wir besuchten den Monumentalkünstler, für den ein Kunstwerk niemals fertig sein kann und der seine Werke niemals auf der Art Basel sehen will.
„Ruinen
sind das
Schönste“

Wenn es in der Kunst um große Zahlen geht, kann es kaum einer mit ihm aufnehmen. La Ribaute, sein Ateliergelände im südfranzösischen Barjac, ist so groß wie 40 Fußballfelder. Die Bilder, die er malt, sind bis zu 14 Meter hoch und 15 Meter breit. Seine Metallskulpturen wiegen meist mehrere Tonnen und können nur mit Kränen und Schwertransportern bewegt werden.
„Wer La Ribaute besucht, geht in meinem Gehirn spazieren“, sagt Anselm Kiefer über sein Ateliergelände, das neuerdings die Hälfte des Jahres für Besucher geöffnet ist. Von 1992 bis zu seinem Umzug nach Paris im Jahr 2007 hat er hier gelebt, seither entwickelt er seine Kunstlandschaft ständig weiter. Zurzeit sind auf dem Areal 52 von Kiefer entworfene Bauten zu sehen, in denen er seine Bilder und Skulpturen ausstellt. Das zentrale Gebäude ist ein 15 Meter hohes Amphitheater mit fünf Stockwerken, für dessen Verschalung ausgemusterte Container verwendet wurden. „Ich habe das Gebäude mit der Hilfe von zwei Assistenten selbst errichtet, ohne einen Architekten oder Ingenieur zu beschäftigen“, sagt Kiefer. „Wegen der amateurhaften Ausführung hatte ich gehofft, dass sich das Gebäude mit der Zeit zur Seite neigt wie die Bunker in der Normandie, aber diesen Gefallen hat es mir immer noch nicht getan.“ Vom Amphitheater führen unterirdische Gänge ab, die mit Baggerschaufeln in den Lehmboden gebohrt wurden. Das labyrinthische Tunnelsystem ermöglicht es, viele der 70 Ausstellungsräume zu besichtigen, ohne zwischendurch ins Freie zu müssen. In den Gewölben unter Kiefers Atelier lagern Tausende Kisten mit Materialien, die einmal zum Bestandteil eines Gemäldes oder einer Installation werden sollen. Die Beschriftung der Behälter reicht von „Säbelzahnfisch“, „Braunes Menschenhaar“, „Wildschweinhufe“ und „Hairachen“ bis zu „Trompetenbaumblüten“ und „Gebrochenes Sägeblatt“. Zum Arsenal gehören auch die Motoren von alliierten Flugzeugen, die im Zweiten Weltkrieg deutsche Städte bombardierten, sowie das Wrack des ersten deutschen Düsenflugzeugs.


Mit seiner Entscheidung, 1992 von Deutschland nach Barjac zu ziehen, hat Kiefer lange gehadert. „Manchmal denke ich, das war ein Fehler, aber ein Fehler ist bei mir nichts Negatives. Daraus entwickelt sich ja etwas. Auch am falschen Ort kann etwas Richtiges herauskommen.“ Weil er mit der Landschaft in Barjac lange nichts anfangen konnte, ließ er sich das Material für seine Kunst anfangs aus Deutschland kommen. Als er hörte, der Kölner Dom solle ein neues Dach bekommen, kaufte er der Stadt die jahrhundertealten Bleiplatten ab und ließ sie mit Dutzenden Lastwagen nach Barjac bringen. In den Folgejahren schmolz er das Blei ein und machte daraus Büchertürme, Mammut-Sonnenblumen, Vögel, Kampfflugzeuge und meterhohe Kriegsschiffe.
Ist Kiefer mit einer Skulptur fertig, lässt er sie ins Freie bringen und setzt sie monatelang Regen und Schnee aus. „Die Natur zeigt uns, dass das, was ist, nicht bleiben kann. Sie vernichtet, was sie selbst geschaffen hat. Diese Vergänglichkeit durchzieht alles, was ich als Künstler seit fünf Jahrzehnten mache.“ Seine monumentalen Gemälde durchbohrt er mit Rosen und Stacheldraht, bewirft sie mit Sonnenblumenkernen und Stroh oder bearbeitet sie mit Spitzhacke, Axt und Flammenwerfer. Wenn er Bilder anfange, wisse er bereits, dass er die meisten wieder vernichten werde, sagt Kiefer. „Ein Gemälde muss von mir immer wieder zerstört werden und bleibt vorläufig. Das ist ein inwendiger Krieg, denn jede verworfene Option ist ein Verlust. Ein Bild von mir greift sich selbst an wie ein Körper, der an einer Autoimmunkrankheit leidet.

Zu den Seltsamkeiten von Kiefers Karriere gehört, dass gerade seine düster-apokalyptischen Arbeiten in der Modewelt höchst beliebt sind. So gehört der Tod’s-Chef Diego Della Valle genauso zu den Kiefer-Sammlern wie der US-Architekt Peter Marino, der Flagship-Stores für die weltgrößten Modekonzerne entwirft und auf Long Island ein privates Museum betreibt. Ihm sei es egal, wer seine Arbeiten erwerbe, sagt Kiefer, allerdings gebe es ein striktes Verbot, an eine bestimmte Klientel zu verkaufen: „Die Anweisung an meine Galeristen lautet, Bilder von mir nur an Personen zu verkaufen, die Kunst nicht als Aktie begreifen, in die man investiert, um sie teurer wieder zu verkaufen. Ich will nicht, dass jemand mit meinen Bildern spekuliert. Meine Galeristen dürfen meine Arbeiten auch nicht auf Kunstmessen wie der Art Basel zeigen. Da hängen in den Hallen Bilder nebeneinander zum Verkauf, die keinerlei Sinnzusammenhang haben.“
Wer in Paris das Panthéon besucht, die Ruhmeshalle der Franzosen, in der Größen wie Rousseau und Voltaire beigesetzt sind, läuft an sechs Arbeiten von Kiefer vorbei, die in Chor und Seitenschiff auf Steinsockeln dauerhaft installiert sind. Ob deshalb bei seinem Ego schon mal die Sicherungen durchschmoren? „Nein“, sagt Kiefer, „es gibt von mir auch ein großes Bild im Louvre, aber selbst das verleitet mich nicht zu Größenwahn, denn sogenannte Erfolge sind psychologisch der sicherste Weg zu Stagnation und Routine. Ich habe es nicht angestrebt, im Louvre zu hängen. Ich wurde gefragt. Genauso war es mit dem Panthéon. Der Auftrag kam von Staatschef Emmanuel Macron. Ich bin seit 1924 der erste Künstler, der Werke für die Ruhmeshalle schaffen sollte. Bei solchen Aufträgen merke ich, dass ich noch lange nicht da bin, wo ich sein möchte.“

Kiefer – zweimal geschieden und Vater von fünf Kindern – lebt und arbeitet heute auf einem 36.000 Quadratmeter großen Areal in Croissy-Beaubourg, 25 Kilometer südöstlich von Paris, umgeben von Autobahnen und einem Flugplatz, wo startende und landende Maschinen alle paar Minuten jedes Gespräch unmöglich machen. Was ihn an diesen unwirtlichen Ort verschlagen hat? „Mobiler kann man nicht sein, als neben Autobahnen und einem Flughafen zu leben. Wenn ich in meinem Atelier in Croissy von einem Bild denke, es sei vielleicht fertig, dann lasse ich es nach Barjac bringen. Im Grunde habe ich immer in meinen Ateliers gelebt und bin sehr viel allein. Man kann sagen, wenn ich nicht schlafe, arbeite ich. Im Atelier bin ich wie ein Kind, das glücklich in sein Spiel versunken ist. Wenn man das Spielerische verliert, kann man aufhören. Manchmal gibt es Arbeiten, bei denen man den Erfolg nicht sieht. Dann muss man sich diszipliniert verhalten und einfach weitermachen. Die Momente, in denen man verzweifelt ist, weil man kein Ende sieht, aber trotzdem weiterarbeitet, sind oft die fruchtbarsten. Bei mir kommt alles zusammen: Spiel, Disziplin und Willen.“ Über privates Glück nachzudenken, hält Kiefer für die unnütze Beschäftigung von Leuten, die nichts mit ihrem Leben anzufangen wissen.
„Ich finde es merkwürdig, wenn Leute mich fragen, ob ich glücklich sei. Ich wüsste auch gar nicht, welchen Inhalt es hat, wenn jemand sagt, er sei glücklich. Für mich gibt es das Wort ‚Glück‘ nicht – ich habe ja was zu tun. Ich habe eine Arbeit, ich möchte etwas herstellen, etwas vollbringen. Die Frage, ob ich dabei glücklich bin, stellt sich mir nicht. Würde sie auftauchen, wüsste ich bereits, dass etwas mit meinen Bildern nicht richtig ist.“
Zu Pinsel und Spachtel greife er nur, wenn er einen Schock erlebe, von dem er fühle, er müsse von ihm bearbeitet werden, sagt Kiefer. Was in ihm diese Schocks auslöse? „Ein Gedicht, ein Musikstück, eine Landschaft, ein Lichteinfall, eine Bibelstelle, ein Kunstwerk, ein geschichtliches Ereignis, von dem ich lese und eine Parallele zu heute sehe. Dann geht es bei mir los. Weil ich überwältigt bin, mache ich etwas. Es entsteht ein Pochen, das einen zum Handeln drängt. Das Interessante ist, dass ein Schock immer auch eine Erinnerung ist – nicht im Kopf, sondern tief in den Zellen.“
Ob er mit 78 Jahren noch Pläne für ein neues Atelier hat? „Natürlich“, sagt Kiefer, „bei mir kommt immer der Moment, in dem ein Aufbruch ins Unbekannte notwendig wird. Wenn ich könnte, würde ich in einem der Krater auf dem Mond ein Atelier errichten.“
La Ribaute, 70 Kilometer nordwestlich von Avignon gelegen, ist von April bis Oktober für Besucher geöffnet. Die dreistündigen Führungen werden auf Deutsch, Französisch und Englisch angeboten und müssen im Voraus online reserviert werden. Mehr unter eschaton-foundation.com
