IM GESPRÄCH

WERK MIT AUTOR

Ein Haus im Münchener Stadtteil Nymphenburg. Edgar Selge sitzt vor einem großformatigen Notizheft, in das er sich Stichpunkte für das Interview notiert hat. Einer lautet: „Ich bin Realist genug, um zu wissen, dass ich Phantast bin.“ Ein anderer: „Selbstporträt eines alten Mannes als Kind“. Selge hat vier Stück Kuchen besorgt. Als er drei Stunden später immer noch keines angerührt hat, wird er sagen: „Ich bin zu nervös, um etwas zu essen, denn dies ist das erste Interview, das ich zu meinem Buch gebe.“

Herr Selge, Sie debütieren mit über 70 als Autor einer autobiografischen Erzählung. Erinnern Sie die Zündsekunde für Ihr Buch?

Ich wollte dieses Buch über mein bizarres Elternhaus schon mit 30 schreiben. Mit 69 habe ich gedacht: Du bist alt, wenn du es jetzt nicht machst, machst du es nie. Jetzt bin ich 73. Ich habe sehr viele Versuche gebraucht, bis ich den Ton fand, dem ich traute. Angefangen habe ich mit dem Tod meines jüngeren Bruders, dem emotionalsten Erlebnis meines Lebens und dem Erlebnis, das ich am meisten verdrängt habe. Ich wollte den Grund dafür herausfinden. Im Schreiben habe ich eine Wahrhaftigkeit von Gefühlen und Erfahrungen gefunden, die zu einer paradoxen Erkenntnis führte: Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir. Man hat nicht nur Klischeevorstellungen von anderen, sondern auch von sich selbst.

Welcher Teil Ihres Selbstbilds hat sich beim Schreiben als trügerisch erwiesen?

Ich bin sehr viel weniger souverän, als ich mich einschätze. Ich bin viel mehr ein Gezeichneter, als ich gedacht habe. Dieser Gezeichnete hat mich interessiert. Ich habe aber keine Memoiren geschrieben. Das Kind, das ich beschreibe, hat es so nie gegeben. Es ist mir aber so ähnlich wie kein anderes Kind.

 

„Das Buch ist das Selbstporträt eines alten Mannes als Kind. Beim Lesen bin ich jedes Mal verblüfft, wie ähnlich sich die beiden sind.“

 

Ihr Vater war ein klavierversessener Gefängnisdirektor, der bis zu 100 Sträflinge zu Konzerten in sein Privathaus einlud. Einer Ihrer Brüder starb 1949 beim Spielen mit einer Handgranate. Sie selbst begingen mit zwölf Jahren Straftaten wie Diebstahl und Sachbeschädigung und fragten sich: „Was für ein Teufel steckt bloß in mir?“ Haben Sie heute eine Antwort?

Weil ich oft die Unwahrheit sagte, fragten meine Eltern: „Wer sind wir denn für dich? Servietten, an denen du dir dein Lügenmaul abwischst?“ Ich wollte Vertrauen brechen und brauchte die Übertretung von Verboten, um zu wissen, wer ich bin. Um frei zu sein, ist manchmal der Mut nötig, andere zu enttäuschen. Ich habe lange geglaubt, ich sei ein harmoniesüchtiger Mensch, aber das stimmt hinten und vorne nicht. Ich will brennen und auch verbrennen.

Zu Ihren Vergehen zählte, Bücher zu stehlen. Erinnern Sie noch, wie viele es waren?

Das wird jetzt gefährlich. Ich weiß gar nicht, ob ich das veröffentlichen möchte, weil ich mich dann genötigt fühlen würde, nach Herford zu fahren und dem Buchhändler einen Scheck über 300 Euro zu geben.

Mit 16 liefen Sie von zu Hause fort.

Ein Mädchen wollte mich nicht. Ich klaute meiner Mutter Geld und fuhr mit der Eisenbahn nach Berlin zu einem Vetter, der Theologie studierte. Er besorgte mir eine Stelle als Totengräber auf dem Friedhof. Diese Arbeit mochte ich sehr gern. Sie bedeutete Freiheit von Schule, Elternhaus und diesem Mädchen. Wir wohnten am Savignyplatz, um die Zeit ein aufregendes Areal, wo sich Strichmädchen mit Strichjungen darum stritten, wer sich da verkaufen darf. Nach zwei Wochen sagte mein Vetter, er könne die Sache nicht länger geheim halten, ich müsse zurück zu meinen Eltern.

Ihr Vater, er hieß ebenfalls Edgar, hat Sie jahrelang auf furchtbare Weise verprügelt.

Irgendetwas ist damals in mir gestorben. Man kann es Urvertrauen nennen, vielleicht auch Liebe. Ich wollte nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt. Wenn mein Vater seine Strafen an mir vollzog, fühlte ich mich wie ein Stück Leder und dachte: Dann schlag mich meinetwegen tot. Ich habe zwei Brüder, die acht und zehn Jähre älter sind als ich. Ohne sie hätte ich meine Kindheit möglicherweise gar nicht überlebt. Andererseits bin ich meinem Vater sehr ähnlich. Uns treibt die gleiche Unruhe und wehe, wir treffen auf Menschen, die nicht schnell genug sind. Ich habe auch seine Stimme.

Empfanden Sie es als Tabubruch, sich den Vater posthum von der Seele zu schreiben?

Kinder machen Gefühlserfahrungen, die sie nicht in Worte fassen können. Wenn sich Erwachsene Geschichten von früher erzählen, rühmen sie sich der Schläge, die sie erhalten haben, wie Heldentaten. Das Kind, das jeder von ihnen gewesen ist, ist wie ausgelöscht. Warum fehlt den meisten Erwachsenen die Sensibilität, das Kind von damals anzuschauen und es von seinen Schmerzen erzählen zu lassen? An wen soll das Kind sich wenden, wenn es sich noch nicht mal an den Erwachsenen wenden darf, zu dem es geworden ist?

Zu den Empfindungen, für die Sie als Kind keine Worte fanden, gehörten die Risse im scheinbar wohlgeordneten Leben Ihrer Eltern.

Mich interessierte, aus welchem geschichtlichen Raum sie kamen. Sie haben sich 1936 kennengelernt. Damals entstand die Grundlage ihres Lebens. Sie verschmolzen mit dem Nationalsozialismus und mussten spätestens 1945 begreifen, einem einzigartigen Irrtum aufgesessen zu sein. Was sie für richtig und wertvoll erachtet hatten, erwies sich als Perversion. Der Rest ihres Lebens reichte nicht aus, sich das zu vergegenwärtigen. Wie so viele in der Nachkriegszeit versuchten sie, mit zusammengebissenen Zähnen glücklich zu sein.

Wann sind die beiden gestorben?

Mein Vater 1975, meine Mutter 25 Jahre später. Beide sind nach Auschwitz und Israel gefahren. Meine Mutter trat in den Achtzigerjahren einem Verein für christlich-jüdische Verständigung bei und hat ihre jüdischen Klassenkameradinnen angeschrieben. Gesprochen hat sie über ihr Schuldbewusstsein mit uns Kindern nie, mein Vater auch nicht. Ich war ein Achtundsechziger. Wir haben uns nie wirklich bemüht, die geschichtliche Kontur unserer Eltern zu erfassen, weil wir Täter nicht zu Opfern machen wollten.

Was verstehen Sie bis heute nicht an Ihrer Beziehung zu Ihrem Vater?

Mir ist immer noch ein Rätsel, wie Kinder und Eltern, die sich in einem sehr aggressiven Verhältnis zueinander befinden, so unglaublich toll Musik miteinander machen können. Ich bin nicht ganz unmusikalisch, aber an einem Punkt merke ich, wie wenig ich Musiker bin: Ich könnte nie abstrahieren, wie ich zu demjenigen stehe, mit dem ich gerade Musik mache. Das war bei meinem Vater ganz anders, bei einem meiner Brüder auch, er wurde später Cellist. Die beiden haben rein emotional kommuniziert, wenn sie miteinander musizierten, und sich hinterher strahlend angeguckt. Ich kann das auf meinen Beruf übertragen. Auch mit unglaublich schwierigen Kollegen ging man nach jeder Aufführung Bier trinken und hat gemeinsam die schlechten Kritiken gelesen. Das ist sehr heilsam.

Wenn die Häftlinge im Garten Ihrer Eltern arbeiteten, kamen Sie mit Kindermördern und Vergewaltigern ins Gespräch. Welcher Insasse steht Ihnen am deutlichsten vor Augen?

Ein 16-Jähriger, der seine Freundin erschoss und dann sich selbst erschießen wollte. Als seine innere Kraft nach dem ersten Schuss erlahmte, stellte er sich der Polizei und wurde zu 15 Jahren Knast verurteilt. Er war mein erster Partner, als ich mit zehn Jahren begann, bei den Theateraufführungen im Gefängnis mitzuma-
chen. Er war von einer unglaublich anrührenden Ernsthaftigkeit. Mein Vater nannte ihn „den halben Kleist“, weil Heinrich von Kleist erst Henriette Vogel und dann sich selbst erschoss.

Fürchteten Sie sich vor den Häftlingen?

Ich war ein ängstliches Kind und hatte Todesangst, bei uns in den Keller zu gehen, aber unter den Gefangenen fühlte ich mich geschützt.

Wenn 400 Eingesperrte aus voller Brust „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen, hat das eine Hingabe und Sehnsucht, die man nie wieder vergisst.

Manchmal stahlen sie eins unserer Fahrräder, um damit zu fliehen. Einer stellte es vor einer Polizeistation ab mit einem Zettel dran: „Dieses Fahrrad gehört Frau Dr. Selge, einer freundlichen Frau, die gute Leberwurstbrote macht. Bitte zurückgeben.“ Ich ahnte, welcher Druck auf den Gefangenen lag: eingesperrt zu sein, die Tür hat innen keine Klinke und vor dem Fenster sind schwedische Gardinen. In einem Gefängnis weggeschlossen zu werden ist eine furchtbare Grausamkeit, die sich nur Menschen ausdenken können.

Welches Image hatte Ihr Vater bei den Häftlingen?

Das vorherrschende Gefühl ihm gegenüber war Respekt. Er führte mit jedem der Häftlinge lange Einzelgespräche und machte das sehr gut – sehr viel besser jedenfalls als mit seinen eigenen Kindern.

Sie haben Philosophie und Germanistik in München und Dublin studiert sowie klassisches Klavier in Wien. Nahm Ihr Vater es Ihnen übel, dass Sie am Ende bei der Schauspielerei landeten?

Nein, er hat mich im Schillertheater in Berlin auf der Bühne erlebt. Vor ihm saßen Marianne Hoppe und Bernhard Minetti. Das hat ihn sehr glücklich gemacht.

Brauchen Künstler von Rang den bösen Blick, den Eissplitter im Herzen?

In meinem Buch zitiere ich die Geschichte von den sechs Dienern aus Grimms Märchen: Ein Königssohn trifft auf seiner Wanderung durch den Wald sechs Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Einer von ihnen trägt eine Binde um die Augen, weil sonst alles zerspringen würde, was er ansieht. Auch in mir gibt es die Tendenz, die Welt kaputtzugucken. Um nicht in eine Depression zu verfallen, muss ich die Dinge mühsam zusammenhalten. Das kostet sehr viel Kraft.

Steckt in diesem Phänomen der Kern Ihrer Art Schauspielerei?

Es hat unglaublich lange gedauert, bis ich so gespielt habe, wie ich spielen wollte, weil die Kollegen um mich herum immer alles besser wussten. Die notwendige Übertretungsfreiheit habe ich mir in „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ von Bernard-Marie Koltès erobert. Das Stück ist ein 100 Minuten langer Monolog, der aus einem Satz besteht. Ich merkte, die Momente, wo ich nicht weiterwusste, waren nicht nur für mich die spannendsten Momente, sondern auch für die, die mir zuguckten. Den Freiraum, der sich da auftat, könnte man Übertretung aus Professionalität bezeichnen. Die suche ich seither in jeder Rolle. Ich habe in meinem Leben viel zudecken müssen. Heute lasse ich diese Dinge vorkommen.

Wenn Sie sich am Schreibtisch beobachten: Sind Sie ein ekstatischer, rauschhafter Schreiber oder ein Hamlet, der sich dauernd mit Skrupeln und Selbstzweifeln herumschlägt?

Alles zusammen. Als ich für mein Buch ein Bild von Rembrandt beschrieb, dachte ich: Warum kannst du nicht schneller schreiben als Satz für Satz? Was, wenn du den übernächsten Satz vergisst, bevor du ihn hingeschrieben hast? Und wird dieser Satz wertlos sein, wenn du dir das Wort nicht merken kannst, das du unbedingt in ihm unterbringen willst? Ich bin in den letzten beiden Jahren fast jeden Morgen um fünf oder sechs aufgestanden, um zu schreiben. Wenn meine Frau nicht da war, habe ich das Frühstück ausgelassen und bis ein Uhr Mittag durchgeschrieben. Wenn ich abends das Geschriebene las, hat sehr vieles nicht mehr standgehalten, weil ich um diese Zeit strenger war. Der Morgen war die Zeit der Gefühle, wo mich ein einzelner Satz beglücken konnte.

 

Hat Schreiben bei Ihnen einen therapeutischen oder gar kathartischen Effekt?

Nein, Erlösung hat sich nicht eingestellt, nur das befriedigende Gefühl, dass aus all dem Schlamassel am Ende ein fertiges Buch geworden ist. Ein Problem meines Lebens ist, dass ich mich durch meine Arbeit definiere. Nur wenn ich arbeite, habe ich das Gefühl zu wissen, wer ich bin. Das ist eine gefährliche Konstellation. Ich war vor Kurzem auf einer Nordseeinsel, um mich von einer Herzgeschichte zu erholen. Ich geriet in ein Loch wie nach einer Theaterpremiere oder dem Abschluss eines Films. Das Gute an der Theaterschauspielerei ist, dass Sie wieder auf die Bühne müssen. Sie bleiben im Arbeitsprozess.

Mann mit Hut: Edgar Selge in seinem Wohnzimmer in München

Ihre Kollege Joachim Meyerhoff wuchs unter 1500 Geisteskranken auf, weil sein Vater eine psychiatrische Anstalt leitete, auf deren Gelände die Familie ein Haus bewohnte. Ein Bruder von ihm starb, als er 16 war. Seit 2011 schreibt er autobiografische Bücher.

Sie wollen auf die Parallelen in unserer Biografie hinaus? Joachim Meyerhoff kenne ich nun wirklich gut. Wir haben zusammen Faust und Mephisto gespielt, Othello und Jago und Hamlet und Claudius. Ich habe einen Riesenrespekt vor seiner Leistung als Schauspieler, aber in der Art zu spielen sind wir sehr verschieden. So ist es auch beim Schreiben. Joachim hat neben seiner komödiantischen Urkraft noch einen brillanten Verstand, auf den er voll vertraut. Darum beneide ich ihn. Ich misstraue meinem Verstand. Das ist ein wesentlicher Unterschied.

Meyerhoff sagt, er kenne sich als Schauspieler in- und auswendig, gelegentlich bis zur Lust- und Freudlosigkeit. Geht Ihnen das auch so?

Ich kenne mich überhaupt nicht. Reflexion reicht nicht für das, was ich beim Spielen oder Schreiben mache. Mein Hauptantrieb ist mein Unterbewusstsein. Erst wenn ich bei ihm ankomme, habe ich das Gefühl, es ist sinnvoll, was ich mache. Ich habe sehr gern Philosophie studiert und denke bis heute gern über grundsätzliche Dinge nach, trotzdem würde ich immer sagen, zuerst ist die Intuition da. Die entscheidenden Erfahrungen im Leben krümmen sich weg, wenn man sie angucken will. Sie aus ihren Löchern herauszuzerren, ist so mühsam, wie einen verstopften Ausguss sauberzumachen. Oft braucht man einen Handwerker dazu.

Der Schriftsteller und Bühnenautor Thomas Melle schreibt: „Das Theater ist ein einziger Säuferverein. In trostlosen Kantinen und holzvertäfelten Kneipen kippt man Biere und Kurze und verlallt sich die schiere Unentrinnbarkeit zu einem schummrigen Zusammengehörigkeitsgefühl zurecht. Dazu sind Psychodynamiken am Werk, die denen einer dysfunktionalen Familie ähneln.“

Das ist unheimlich schön ausgedrückt, aber weder Meyerhoff noch Lars Eidinger oder ich sind Alkoholiker. Mit Schnaps und Genialität kommen Sie im heutigen Theater nicht mehr weit. In meinem Beruf bin ich ein Triebtäter, aber Alkohol spielt in meinem Leben keine Rolle.

Ein Kostüm anlegen, geschminkt werden, anderer Leute Text aufsagen und dazu Gesichtsfasching abliefern: Ist Schauspielerei der unmännlichste Beruf überhaupt?

Ich habe diesen Anspruch an Männlichkeit nicht und möchte diese Gedankenwelt auch nicht mehr bedienen. Ich bin ein Anhänger von Diversität und halte Mannsein für eine Rolle. Man kann diese Rolle mit großer Ernsthaftigkeit und einem bestechenden Reichtum an Klischeereaktionen spielen, aber sie bleibt eine Rolle – so wie schwul oder lesbisch sein.

Wird man als Schauspieler durch die dauernde Einfühlung in fremde Leben über sich selbst klüger?

Nehmen Sie die Zerstörungslust von Shakespeares Jago. Er ist von Selbsthass getrieben, und Selbsthass kenne ich von mir selbst. Kann ich damit besser umgehen, weil ich Jago gespielt habe? Ich müsste lachen, wenn ich jetzt Ja sagen würde. Wenn ich tief in den Seilen hänge, brauche ich eine Gesprächspartnerin. Bei mir ist das meist meine Frau. Sie ist mir auch deshalb unendlich wichtig, weil sie mir Dinge klarmacht, für die ich blind bin und es wahrscheinlich auch bleiben werde.

Sieht für einen Schauspieler, der Menschen beobachtet, alles nach Schauspielerei aus?

Ich habe mit 12, 13 angefangen zu denken, die anderen spielen mir ihr Leben nur vor und stecken in einer Rolle fest. Das ist ein zerstörerischer Blick, vor dem man sich fürchten kann – und er begleitet mich bis heute. Wenn man sich fragt, ob das Gestische eines Menschen mit seinen wirklichen Gefühlen übereinstimmt, zerlegt man die Welt und bringt sie unter Umständen nicht mehr zusammen. Es bleiben Teile zurück, die nicht mehr zusammenpassen. Andererseits interessiert uns Kunst, weil wir erleben wollen, wie jemand die Welt anders zerlegt und zusammensetzt, als wir selber es tun.

In welchen Momenten kommt Ihnen die Schauspielerei wie elende Plackerei vor?

Ich habe mal einen ganzen Sommer lang den Text von Michel Houellebeqs Roman „Unterwerfung“ gelernt …

… den Sie in einem zweieinhalb Stunden langen Monolog auf die Bühne brachten.

Zwischendurch bin zu einer Filmpremiere nach Rio de Janeiro geflogen. In diesen Tagen saß ich in meinem Hotelzimmer und lernte stundenlang die „Unterwerfung“, jeden Tag eine Seite, am nächsten Tag die Seite wiederholen – furchtbar, grauenvoll! Wenn ich durch das Rauchglasfenster nach draußen guckte, sah ich unter mir den Strand von Copacabana. Als ich merkte, es ist Freitagnachmittag, ging es nicht mehr: Ich zog mir eine Badehose an, nahm ein Handtuch, überquerte die Straße zum Strand und ging ins Meer. Es ist schon Arbeit, was ich mache.

Ist Schauspielern das Rollenspiel derart zur Natur geworden, dass sie ihre wirkliche Stimme verlieren und immerfort agieren, als ob sie in irgendeiner Szene auftreten?

Der große Irrtum ist, dass man immer von Rollen spricht. Max Frisch schrieb über sich: „Ich kenne mich nicht ohne Maske.“ Unter den Schriftstellern ist Thomas Mann der größte Schauspieler, weil er den Schriftsteller am besten gespielt hat. Das Pathos seiner Darstellung macht ihm keiner nach.

Welche Berufskrankheit diagnostizieren Sie bei sich?

Ein bisschen sehr viel Ich-Bezogenheit. Identitätsschwach war ich schon immer.

Regiestars wie Peter Zadek und Rainer Werner Fassbinder haben Schauspieler gedemütigt und gequält, Frank Castorf ist als Rumbrüller bekannt. Gab es bei Ihnen Situationen, wo Ihre Selbstachtung Ihnen verbot, weiter mit einem Regisseur zu arbeiten?

Ich habe zwei sehr bekannte Filmregisseure erlebt, die mit den Menschen vor und hinter der Kamera furchtbar umgingen. Mit einem von ihnen hätte der Künstler in mir gern weitere Arbeiten gemacht, aber meine Selbstachtung sagte Nein. Ich habe mich sehr früh für den respektvollen Regisseur Dieter Dorn entschieden, was nicht immer leicht ist, weil er in Depressionen ausbricht, wenn eine Probe nicht funktioniert. Es ist nicht angenehm, oben auf der Bühne zu stehen und einen Regisseur aus seinen Depressionen rausholen zu müssen, weil er anscheinend alles, was Sie machen, abgrundtief langweilig findet.

Wie reagieren Sie, wenn ein Regisseur das Ensemble anbrüllt?

Das kann ich nicht akzeptieren, weil mir die Leute fehlen, die zurückbrüllen. Wir haben Aufführungen von Franz Xaver Kroetz platzen lassen, weil er sich nicht beherrschen konnte. Nach Mediationsgesprächen haben wir dann wieder zusammengefunden. Der Regisseur Hans Lietzau war der erste, der mich an ein großes Theater geholt hat. Ich habe die Arbeit mit ihm vermieden, weil er jemand war, der Menschen zerlegt hat. Unsere einzige Zusammenarbeit war „Maria Magdalena“ von Friedrich Hebbel. Da hat meine Frau …

Franziska Walser, die älteste Tochter des Schriftstellers Martin Walser …

… die Hauptrolle gespielt. Von ihr war Lietzau so was von hingerissen, dass er ihr wie ihr Schüler bewundernd zuguckte. Als ich in einer Szene eine Tür öffnen sollte, sagte er:

„Herr Selge, ich habe das Gefühl, ich kann Ihnen eine x- beliebige Kollegin an die Seite stellen, und Sie würden immer dasselbe Gesicht machen. Es ist doch aber die Franziska Walser! Das muss doch etwas Besonderes in Ihnen auslösen!“

Das fand ich toll. Einmal sagte er mir: „Herr Selge, Sie haben einen natürlichen Ton, der einen total für Sie einnimmt. Aber ich habe den Verdacht, Sie machen einen großen Umweg um Ihre Gefühle und um das, was wirklich wehtut. Kann das sein?“ Das sagte der mit einem mephistophelischen Röntgenblick, der einem unangenehm sein konnte. Aber wenn man drüber nachdachte, hat der Mann goldrecht gehabt – bis heute.

Welcher Wunsch ist heute stärker bei Ihnen: schreiben oder spielen?

Seit das Buch fertig ist, fehlt mir das Schreiben unglaublich. Ich kann mir durchaus vorstellen, das Spielen sehr zu beschränken. Ich sehne mich danach, endlich wieder ein Thema zu finden, mit dem ich morgens aufstehe. Ich gehe in den nächsten Wochen auf Lesereise. Danach werde ich klarer sehen.

Können Sie sich vorstellen, einen Roman zu schreiben, der nichts mit Ihrem Leben zu tun hat?

Nein, ich glaube nicht an reine Fiktion. Erfindung ist Erinnerung.

Interview
Sven Michaelsen
Fotos
Robert Fischer