Im Labor

Oval, aber anders

Ein Stuhl, 17 Designer: Dior lässt seinen ikonischen „Medaillon Chair“ neu interpretieren. Das Ergebnis ist eine kleine Frischzellenkur für die ganze Möbelbranche.

Er gehört zu Dior wie der New Look, die Schleife und die „Lady Dior“-Tasche: Der „Medaillon“- Stuhl im Louis-seize-Stil, der schon in den späten 1940ern im Stammhaus in der Avenue Montaigne und später in den Boutiquen stand und mit seiner charakteristischen ovalen Rückenlehne, seinem weißen Rahmen und grauen Polstern für jene „nüchterne, einfache, und vor allem klassische und pariserische“ Atmosphäre sorgte, die Christian Dior sich für seine Schauen und Kreationen wünschte. So wurde der Stuhl des Klassizismus, obwohl weder Mode noch ein Eigenentwurf, zu einer Ikone des Hauses. Man kann ihn sogar kaufen, in Buchenholz, mit rotem, blauem oder grauem Toile-de-Jouy bezogen, ist er Teil der Dior-Maison-Kollektion (2900 Euro). Einerseits. Andererseits hat Dior gerade 17 internationale Designer eingeladen, den „Medaillon“-Stuhl neu zu interpretieren. Das Ergebnis ist ab dem 05.09.21 in Mailand zu sehen, anlässlich der Möbelmesse, und man kann schon jetzt getrost behaupten: Es wird eines ihrer Highlights sein.

Live von der Mailänder Design Week

Nicht nur, weil die Teilnehmerliste eine exquisite Mischung aus Interiorstars, Gestalter-Avantgarde und renommierten Künstler-Designern ist, sondern weil solche Projekte, vom beiderseitigen Prestigegewinn einmal abgesehen, vor allem als Ideenlabore gedacht sind, in denen Kreative frei von Kostendruck und den Erfordernissen serieller Produktion experimentieren und gestaltend philosophieren können. So hat der Franzose Pierre Charpin, der über die Bildhauerei zum Design kam, den Stuhl auf seine geometrischen Grundformen reduziert und aus schwarzem Stahlrohr als Zeichnung im Raum interpretiert, mit einem Spiegel als Sitzfläche. Beim Japaner Tokujin Yoshioka, der sich von den Strukturen der Natur inspirieren lässt, wächst der Stuhl aus einem Stapel transparenter Polycarbonatscheiben, die an Eisschollen erinnern, seine Ränder flirren und lassen ihn körperlos erscheinen. India Mahdavi wiederum, Pariserin mit iranischen Wurzeln, setzt auf einen kleinen Clash der Farben und Kulturen, indem sie das nüchterne Grau der Polster durch fünf verschiedene, eigens entwickelte, knallbunte Muster ersetzt, die mit traditionellen indischen Techniken in Kaschmir gestickt werden. Und die Niederländerin Linde Freya Tangelder, die sich der Dekonstruktion verschrieben hat, zerlegt den Stuhl und baut ihn in grauem Aluminium neu auf: als Skulptur mit drei Beinen, das typische Medaillon kommt nur noch als kleines Tablett am Kopf der Rückenlehne vor.

Pierre Charpins Design. ©Marion Berrin
Der von Tokujin Yoshioka ist fast unsichtbar. ©Yuto Kudo
India Mahdavi taucht ihn in Farbe. ©Marion Berrin
Bei Linde Freya Tangelder wird der Stuhl zur Skulptur. ©Marion Berrin
Skulptural geht es Ma Yansong an. ©Ken Ngan
PIERRE YOVANOVITCH ©Marion Berrin
SEUNGJIN YANG ©Sungmin Kim
NENDO ©Yuto Kudo
MARTINO GAMPER ©Valentin Hennequin
LINDE FREYA TANGELDER ©Marion Berrin
JINYEONG YEON
©Sungmin Kim

Welche Entwürfe in Produktion gehen werden und in welcher Stückzahl, ist noch offen. Aber allein das Projekt muss wie eine Frischzellenkur wirken auf die Möbelbranche, die in den letzten Jahren immer öfter auf Nummer sicher gehen wollte, indem sie alte Entwürfe aus dem Archiv hervorholte und als Klassiker zu reanimieren versuchte. Hier aber wird ein echter, in seinen Ursprüngen gut 250 Jahre alter Klassiker zerlegt, bespielt, erweitert, neu gedacht und so in die Gegenwart überführt. Es ist die reine Freude. Wie sagte schon Monsieur Dior?

„Tradition ist wichtig, aber man muss sie stimulieren und verändern, damit sie modern bleibt.“

 

Text
Gabriele Thiels