MANUFAKTUR

IMMER SCHÖN FLEXIBEL

Fortschritt braucht nicht nur Technik, sondern auch Handwerk. Ein Besuch bei den Schuhmachern von Louis Vuitton in Italien.

Inmitten eines gepflegten, satten Rasens liegt ein betongrauer Block, knapp 30 Kilometer außerhalb von Venedig. Ein übergroßer weißer Pump direkt vor dem Eingang verrät mehr. Der Schuh ist eine Skulptur von Jean-Jacques Ory, auf die Innensohle hat er die Venus von Botticelli gemalt. Hier in Fiesso d’Artico steht seit 2009 die Schuhfabrik von Louis Vuitton. Auf 14.000 Quadratmetern baute Architekt Jean-Marc Sandrolini aus Stahl, Glas, Beton und Holz eine Manufaktur, die von außen passenderweise an einen Schuhkarton erinnern soll. Aber wie im Karton die Schuhe, sind die Werkstätten im Innern vor konspirativen, kopierbereiten Blicken verborgen. Fünf sind es, alle benannt nach berühmten Taschenmodellen der Luxusmarke wie „Alma“ und „Speedy“. Wie viele Pumps, Sneaker, Anzugschuhe hier produziert werden? Auch das ein Firmengeheimnis.

 

Nicht zufällig wählten die Franzosen diesen Ort in Venetien aus, an der Riviera del Brenta, das französische Luxusunternehmen sucht für seine Fertigungsstätten immer jene Region aus, die berühmt für das jeweilige Metier ist. Was Paris für die Mode und Grasse für die Düfte, ist Venetien für die Schuster. Schon im 13. Jahrhundert wurde hier das feine Schuhwerk der venezianischen Aristokraten gefertigt. Im Gegensatz zu den wuseligeren kleinen Familienbetrieben, in denen Wissen seit Generationen weitergegeben wird, sieht es bei Louis Vuitton so aus, wie man es von der größten Luxusmarke der Welt erwartet. Die Maschinen sind fast elegant, arbeiten leise, allenthalbenhängt Kunst an der Wand oder von den Decken und überall gibt es Tageslicht. Das ist auf die energiesparende Bauweise zurückzuführen und soll den Handwerkern das Arbeiten erleichtern.

Die Ateliers, die wie stylische Großraumbüro-Lofts aussehen – wären da nicht überall Maschinen und Regale voller Schuhe – sind zum Grün hin geöffnet. Von 450 Mitarbeitern setzen mehr als die Hälfte Entwürfe um, die unter anderem Virgil Abloh, Men‘s Artistic Director, kreiert. Der amerikanische Designer, seit Frühjahr 2018 bei Louis Vuitton, Gründer der Kultmarke Off-White und berühmt für seine Sneaker, brachte frischen Wind nach Fiesso. Ein Mitarbeiter seines Studios erzählt beim Rundgang, dass der Designer sie immer wieder auffordere, ans Limit zu gehen, neue Materialien zu finden, die Schuhe leichter und flexibler zu machen. Und so kam es auch, dass Abloh nach dem ersten Lockdown 2020 die „Vendôme Flex“-Serie entwarf. Loafer, Derby Shoe und Chelsea Boot – anders als Ablohs in Form und Farbe auffälligen Sneaker sind sie schlicht schwarz, nur mit Mini-LV-Logo in den Absätzen versehen und: biegsam.

„Wir alle trugen in dieser Zeit meist Sneaker oder nichts, aber gleichzeitig war der Wunsch nach dem Formellen da und somit auch die Frage: Wie gestaltet man einen Business-Schuh mit dem Komfort eines Sneakers?“

erklärt Mathieu und biegt den vorderen Teil des Schnürschuhs hoch. Der Schuh aus auf Hochglanz poliertem Kalbsleder folgt, als sei er aus Gummi. Der Clou ist, dass er innen wie ein Sneaker gearbeitet ist, komfortabel und leicht, als könne man in ihm joggen, und nur aussieht wie ein Anzugschuh. „Think outside the box“, eine Maxime von Abloh, hat hier eine ganz eigene Bedeutung. Aber wenn man dann den Handwerkern wie Roberto, Gigi, Carlo, Elisabetta und ihren Kollegen über die Schulter schaut, die von Hand Naht für Naht setzen, die Schuhe verkleben, polieren, die Patina auftragen – nicht nach Anleitung, sondern jahrzehntelang trainiertem Gefühl – dann weiß man, dass es nicht nur kreative Ideen und neueste Materialien, sondern vor allem das alte Handwerkskönnen braucht, um zukünftigen Luxus zu fertigen.

Text
Caroline Börger