CBD wird aus der Cannabis-Pflanze gewonnen. Der Einsatzbereich und die Popularität des Stoffes sind riesig. Wir besuchten eine Farm in den Abruzzen.
Grüner wird’s nicht
Zur Bäckerei von Oksana Bihanyc in Castelvecchio Subequo führt nur ein Weg: durch den Fliegenvorhang. Dort, in dem kargen Raum, liegt ihr überschaubares Warenangebot auf Tapeziertischen, die mit bunten Plastiktischdecken bedeckt sind. Seit 15 Jahren schiebt die 52-jährige Frau in weißer Kittelschürze, die aus der Ukraine stammt, Brot und Pizza auf einem Stahlschieber in den Ofen. Die Bewohner des kleinen Dorfes in den Abruzzen danken es ihr, ihr Rücken weniger: inoperabler Bandscheibenvorfall und Unverträglichkeit von Schmerzmitteln. Davon ist an diesem Spätsommertag jedoch nichts zu bemerken. Es gehe ihr gut, sagt sie und strahlt. Sie schlägt ein paar Scheiben Pizza in Papier ein und reicht sie Jacopo Paulini. Bezahlen darf der dafür nicht, darauf besteht sie, denn er habe letztlich dafür gesorgt, dass ihre Rückenschmerzen nur noch Erinnerung sind. „Jahrelang“ habe er auf sie eingeredet, es doch einmal mit seinen CBD-Produkten zu versuchen.
CBD, das ist die Kurzform für Cannabidiol, und wie der Name schon andeutet, stammt der Wirkstoff aus der Cannabis-Pflanze. Es enthält im Gegensatz zum illegalen Cannabis weniger als 0,2 Prozent THC, des Stoffs, der für rauschhafte Erlebnisse sorgt, und ist deshalb nicht psychoaktiv und somit legal. CBD wirkt anders. In Kapseln oder Tropfen eingenommen, ist es antientzündlich, entspannend, und es macht nicht abhängig. Bäckerin Bihanyc war trotzdem skeptisch, aber irgendwann mürbe von dem mangelnden Erfolg konventioneller Schmerztherapien. Und siehe da: Das CBD entpuppte sich als „cosa grandiosa“, als „super Sache“, und heute ist sie dankbar über die Hartnäckigkeit von Paolini.
Der 40-Jährige ist zusammen mit seinem Cousin Marco Cappiello, 37, Gründer der CBD-Marke Enecta, für die sie außerhalb des Dorfes auch THC-freies Cannabis anbauen. Bei Enecta gibt es CBD-Produkte in Kapsel- und Tropfenform in verschiedenen Potenzen, als Kosmetik und sogar als Hundetropfen. Unter dem Namen Terre di Cannabis vertreiben die Italiener zudem THC-freies Gras, die Blüten der Pflanze zum Rauchen. Von Duft und Handhabung unterscheiden sie sich nicht von den berauschenden Kollegen, aber der Effekt ist nicht derselbe. Eine entspannende Wirkung stellt sich jedoch ein und ist ausdrücklich erwünscht.
CBD öffnet im medizinischen Bereich, im Freizeitgebrauch und als Lifestyle-Produkt neue Möglichkeiten: In den USA ist es in schier unendlichen Varianten von Schokolade bis Salatdressing längst im Mainstream angekommen. Der Babyshower von Kim Kardashians viertem Kind stand ganz im Zeichen von „CBD everything“. Auch die 79-jährige Unternehmerin und Fernsehköchin Martha Stewart zählt zu den Fans des Wirkstoffs und hat ihre eigene Kollektion auf den Markt gebracht, darunter fruchtiges CBD-Gelee-Konfekt und Tropfen mit Orangengeschmack. Motto: „Entdecke deine innere Martha“.
In Castelvecchio Subequo steht man dem Ganzen noch nicht ganz so euphorisch gegenüber wie in Hollywood, den Hamptons oder den zahlreichen spezialisierten CBD-Boutiquen, die nun auch in den deutschen Innenstadtbezirken aufpoppen. Allerdings steigt die Zustimmungsrate langsam, aber stetig. Inzwischen liege die öffentliche Meinung bei „fünfzig-fünfzig“ für und gegen den örtlichen Anbau, schätzen die jungen Unternehmer von Enecta.
Das Dorf mit seinen knapp 900 Einwohnern liegt auf einer Anhöhe. Die Wurzeln der Siedlung lassen sich bis in vor-römische Zeiten verfolgen. Heute jedoch kämpft man mit gegenwärtigen Problemen vieler ländlicher Regionen: Abwanderung, Jugendarbeitslosigkeit und die Erdbeben, die die Gegend immer wieder erschüttern. Fremden und Fremdem gegenüber ist man eher misstrauisch eingestellt. Als Paolini, der hier geboren wurde, und Cappiello, der aus Neapel stammt, begannen, Cannabis zu pflanzen, schlug die Empörung Wellen: „Am Anfang haben alle gesagt: ‚Ihr seid Drogendealer.‘ Und wir haben gesagt: ‚Nein, wie sind Bauern‘“, erzählen sie. Dabei stimmt das eine nicht und das andere nur bedingt. Die Cousins hatten nämlich nach ihrer Schulzeit nur eines im Sinn: hinaus in die Welt. Cappiello studierte Marketing in Perugia und Kunst in Amsterdam, Paolini Wirtschaftswissenschaften in Bologna, wo er danach als Angestellter in einem Büro arbeitete. Sinnsuchend machte er sich 2012 nach Amsterdam auf, um Marco zu besuchen, der ebenfalls mit dem Lauf der Dinge nicht so recht zufrieden war. Gemeinsam überlegten die beiden, wo ihre Interessen liegen. Ein Thema, auf das sie immer wieder zurückkamen, war Cannabis. Die Einstellung der Niederländer gegenüber der Pflanze brachte sie zum Nachdenken: „Ich liebe Cannabis genauso wie Wein, aber dann wiederum hinkt der Vergleich mit Alkohol ab einem bestimmten Punkt, denn Alkohol ist ein starkes Nervengift. Bei Cannabis wiederum gibt es Pflanzenstämme ohne psychoaktive Effekte. Bisher hatte sich die Forschung und die öffentliche Diskussion immer um das Thema THC gedreht. Das CBD fiel dabei unter den Tisch“, so Cappiello. Es hatte jedoch die Aufmerksamkeit der beiden Italiener erregt. Und da in Europa noch kaum jemand von CBD redete, geschweige denn es verkaufte, entschieden sie sich zu einem radikalen Schritt: Job und den Kontinent verlassen. Das Ziel war Kalifornien, der gelobte Landstrich für Cannabis-Enthusiasten. Hier, in der Nähe von San Diego, hospitierten sie auf den Feldern einer CBD-Farm: Anbau, Extrahierung, Sales, Marketing. Nach zwei Jahren war es so weit: „Das, was wir dort gelernt hatten, wollten wir in Italien anwenden – mit unseren Werten.“ 2015 kamen die beiden mit großen Plänen zurück nach Europa und waren Vorreiter für CBD in der Branche.
Es fühlte sich jedoch zunächst anders an. Die erste Zeit war ein regelrechtes „Klinkenputzen“. Sie kontaktierten potenzielle Kunden und Anbieter mit ihren damals noch nicht selbst hergestellten Produkten: „Es gab so viel Ärger und Unverständnis“, erinnert sich Marco. Vor drei Jahren fiel dann der Entschluss, selbst anzubauen, um ein eigenes Farm-to-table-Produkt anbieten zu können. Zeitgleich wurde CBD mit seinen vielfältigen Heilsversprechen bei Nervosität über Schlafbeschwerden bis hin zu Arthritis und Akne auch in Europa immer populärer. Und die Qualität von Enecta schien zu überzeugen: Heute erntet das Unternehmen 35 Tonnen Cannabis pro Jahr, das auf zehn Hektar in der Nähe von Verona und auf zwei Hektar in den Abruzzen angebaut wird. Daraus ergeben sich 1500 Kilo reines CBD zur Weiterverarbeitung. 15 Mitarbeiter beschäftigt Enecta allein im Büro in Bologna, und 2019 generierte man 8,5 Millionen Euro Umsatz. Doch Cannabis, darauf legen Cappiello und Paolini Wert, ist für sie mehr als nur ein Kraut, mit dem sich ein potenziell einträgliches Geschäft machen lässt. Es gehe ihnen – neben der Qualität der Produkte und fairen Preisen – um die Menschen, mit denen sie arbeiten. Die Werte ihres Familienunternehmens lassen sich auf ihren Feldern und in ihrer Produktionsstätte besichtigen. Dort verwandeln sich die beiden Unternehmer zwischen den prächtigen Pflanzen zu stolzen Landwirten:
„Jede Pflanze ist anders und eine Welt für sich“, schwärmt Paolini und streicht zärtlich über die Blätter. Und es stimmt: Die bis zu zwei Meter hohen Gewächse, deren intensiver Duft weit über die Felder hinausgetragen wird, sehen aus wie zottelige Charakter-Muppets. Echte Persönlichkeiten.
Mitte September, läuft die Ernte an: Wenn die feinen weißen Härchen auf der Pflanze einen Amberton haben und der Dorf-Apotheker den optimalen CBD-Gehalt gemessen hat, fällt der Startschuss. Satt wiegen sich die Pflanzen im Wind, wenn man sie anfässt, bleibt ein Harzfilm an den Fingern kleben. Die Cousins haben da so ihre Beobachtungen gemacht: Zur Erntezeit heuern sie Helfer aus noch abgelegeneren Dörfern in den Bergen an, „richtig harte Burschen“. Aber die Arbeit in den Feldern und der andauernde Kontakt über Haut und Lunge mit dem reinen CBD-Wirkstoff des Cannabis entspanne sie und sie seien auffallend sanftmütig und gut gelaunt, berichten die Cousins. Für die Arbeiter ist es ohnehin erfreulich: Enecta beschäftigt, anders als viele andere Betriebe, keine illegalen Wanderarbeiter, und sie haben einen zusätzlichen Job. 14 Arbeiter beschäftigt das Unternehmen pro Hektar Land, größere Anbauflächen und eigene Extraktionslabore sind in Planung, und für diese Gegend, in der die traditionelle Landwirtschaft alles andere als eine Wachstumsbranche ist, ist das ein hoffnungsvolles Zeichen.
Das Klima der Bergregion ist ideal für den Cannabis-Anbau. Durch die Tag-Nacht-Temperaturschwankungen werden die Pflanzen angeregt, mehr Harz und damit mehr CBD zu produzieren. Nach der Ernte werden die Pflanzen in einer Trockenkammer getrocknet und zerhäckselt. Danach in eine andere Region Italiens, in die Schweiz und nach Litauen transportiert, wo in Laboren und unter anderem mit der Hilfe von Ethanol das CBD extrahiert wird.
Die schönsten Blüten werden allerdings schon in Castelvecchio Subequo auf einem Gewerbehof per Hand am Fließband aussortiert, um als Rauchware verkauft zu werden. Hier arbeiten die 24-jährige Michaela und die 23-jährige Giovanna und sortieren flink die untauglichen Blüten aus, der Rest landet am Ende des Bandes in einer großen Plastikwanne. Die beiden jungen Frauen stammen ebenfalls aus dem Dorf und fanden laut Marco Cappiello keine Arbeit, bevor sie bei Enecta angestellt wurden.
In einer angrenzenden Garage stehen Schubkarren und Transporter, auf deren Ladeflächen Berge von Cannabis liegen. Der süßliche Geruch, der einem hier entgegenschlägt, ist überwältigend. Hier sind Luigi, Giovanni und Sekov mit der Entladung der Ernte beschäftigt. Sie sind ein multikuturelles Team: Luigi stammt von hier, er kennt seinen Chef schon seit Kindesbeinen, Giovanni kommt ursprünglich aus Rumänien, während Sekov, ein ehemaliger Bootsflüchtling aus Mali, seit drei Jahren im Team ist. Ich frage sie, ob sie das Produkt, an dessen Entstehung sie mitarbeiten, probiert haben: Luigi verneint, „auch wegen dem, was die anderen Leute so reden“. Giovanni sagt, er nehme es – und es sei „wunderbar bei Rücken- und Schlafbeschwerden“, außerdem solle man doch wirklich das Produkt kennen, für das man arbeite, fügt er hinzu. Sekov wiederum nimmt kein CBD, da wo er herkomme, habe er zuvor noch nie von Cannabis gehört. Wofür er aber „unendlich dankbar“ sei, sei die Arbeit, die er hier verrichten dürfe. Wenn alles gut läuft, bekomme er demnächst einen italienischen Pass. CBD, so scheint es, kann auf viele Arten glücklich machen.
Das sieht auch Bäckerin Oksana Bihanyc so: „Es ist ein Naturprodukt und es hilft mir“, sagt sie. Und überhaupt, sie sei nicht die Einzige, die CBD nehmen würde. Es gebe noch einige hier im Dorf – aber die würden es nicht zugeben, weil sie anfangs dagegen gewesen seien. Aber sie stehe dazu, sagt sie und versenkt die Pizza schwungvoll im Ofen.