Als in der Pandemie ein Geschäft auf St. Pauli frei wurde, sah Bonnie Pirschel ihre Zeit gekommen und machte sich mit „Bonnie & Braves“ selbstständig. Die „Mutigen“ im Namen sind sie selbst und ihr Nachbar, der Denim-Heilige Stefano Angelico.
BLAU. TREU. ECHT.
Sankt Pauli ist noch nicht wach. Ein paar Menschen sitzen in den Cafés, wer um diese Zeit auf der Paul-Roosen-Straße unterwegs ist, ist es ohne Eile. Bei „Bonnie & Braves“ ist Licht. Ein junges Paar bleibt vor dem Schaufenster stehen, kichert beim Blick zum kitschigen Mutter-Kind-Gemälde. Darauf steht: „Jetzt schlaf doch endlich ein, Mama braucht ein Glas Crémant.“ Nein, es ist keine Kneipe. Sondern ein zauberhafter, kleiner Concept Store. Und die Collage eine Spezialität von Eigentümerin Bonnie Pirschel.
Sie steht hinter einem gediegenen, mit Heiligenbildern geschmückten Holztresen und sortiert Schals. Die indigofarbenen Tücher würden gut zu ihrem eigenen Jeans- Stil passen, sagt sie. „Ich bin auch mein eigener Kunde.“ Ihr Geschäft hat die 47-Jährige mitten in der Pandemie eröffnet. Unerschrocken, sie sei halt ein absoluter Bauchmensch. „I think about things nachher“, sagt sie mit dem typischen Denglisch, das nicht aufgesetzt wirkt, sondern schlicht charmant. Nicht weit entfernt in der Großen Freiheit haben sich ihre Eltern kennengelernt. Der Vater Schlagzeuger aus Liverpool, die schwedische Mutter Sängerin bei den Les Humphries Singers. Heute betreiben die beiden den English Pub „Kemp’s“ am Mittelweg – inklusive Livemusik und Starclub- Stammtisch. Tochter Bonnie ist ihr Leben lang viel herumgereist. Immer wieder London, mal Australien, Indien.
„Weil ich so nomadmäßig durch die Welt gereist bin, war wahrscheinlich emotional immer Hamburg mein Zuhause“, sagt sie.
Bevor sie in ihrer Geburtsstadt sesshaft wurde, hat sie verschiedene Jobs ausprobiert, die sie heute lakonisch unter „University of Life“ zusammenfasst. Wirklich erfüllt habe sie das Aufziehen ihrer beiden Töchter. Und weil sie mit ihren Mädchen irgendwann nicht mehr habe basteln können, sei sie wohl selbst kreativ geworden. „No guts, no glory“ steht auf einem weiteren großmütterlichen Wohnzimmerschinken an der Wand. Bilder, die sich übrigens ziemlich gut verkaufen. „Ein bisschen sieht es hier aus wie bei mir zu Hause. Ich mag Sachen mit Geschichte. Wenn die reden könnten!“ Wie die Vintage-Boots, zum Beispiel. Der eigentliche Grund für ihre Selbstständigkeit ist daher eine besondere Freundschaft, die ein paar Meter weiter links ihren Ursprung hat. Braves & Company heißt das dort seit 2015 ansässige Label von Stefano Angelico – Anlaufstelle für „Denimheads“ aus aller Welt. „Mein Kerl hat sich dort ein Outfit für unsere Hochzeit anfertigen lassen, dabei haben wir uns mit Stefano angefreundet“, erzählt Bonnie Pirschel. „Als dann dieser Laden frei wurde, haben wir entschieden, dass das ein guter Ort wäre, um Stefanos Damenkollektion zu verkaufen.“ Das sind weiche Shirts aus japanischer Baumwolle, weite Hemdblusenkleider oder gerade geschnittene Raw-Denim-Jeans, die beim ersten Tragen – selbstverständlich – noch abfärben, und die Bonny selbst stilecht mit breit umgeschlagenen Bündchen trägt.
Hier gibt es kein Stretch oder Skinny, sondern Arbeiter-Style mit Selvedge-Kante an den Seitennähten.
Natürlich gehört auch ein Online-Shop zu Bonnie & Braves, doch wer persönlich kommt, will Stoffe betasten, probieren, manchmal auch fachsimpeln. Darüber, wie viele Unzen der Stoff hat oder über die charakteristische Stickerei auf der Gesäßtasche. „Diese Kunden haben oft einen kompletten Lifestyle mit passender Musik, Büchern, Motorrädern.“ Auf einem Regal stehen bemalte Kanister mit griechischem Olivenöl von einer befreundeten Künstlerin und Accessoires von Lotta Spjute aus Stockholm mit Bullterrier-Motiven. Uwe, ein ganz reales Exemplar, kommt bemerkenswert schüchtern hinter dem Tresen hervor, als Stefano Angelico auf einen Kaffee vorbeischaut. Auch der „Braves & Co“-Designer ist im Komplettlook mit Umschlagjeans im Heritage-Stil, mit gestreiftem Hemd und Denim-Weste. Auf den Unterarm ist eine große Schere tätowiert. Das Original hängt im benachbarten „Atelier No.12“, wo Prototypen, Maßanfertigungen und Unikate entstehen, an der Wand. Wie viele andere Werkzeuge stammt die Schere noch aus der Werkstatt seines Vaters in Rom.
„Ich liebe Tradition“, sagt Angelico, der schon als Kind gelernt hat, mit Nadel und Faden umzugehen, und der nie wirklich losgekommen ist vom Schneiderhandwerk.
Der 55-Jährige musste jedoch erst die Jeans-Kollektionen einer großen deutschen Modekette verantworten, um zu erkennen, dass er zurückwollte zu dem, was er im elterlichen Betrieb gelernt hatte. Weg vom Austauschbaren zum Individuellen. Zum aufwendigen Entstehungsprozess, in den Manufakturen eingebunden sind, mit denen schon der Vater gearbeitet hat. Zeitlose und oftmals limitierte Lieblingsstücke. Die man irgendwann vielleicht zu Stefano Angelico zurückbringt, weil etwas repariert werden muss. Er selbst habe früher einmal 250 Jeans besessen. Heute kaufen Sammler seine Modelle etwa im berühmten VCM-Store in Zürich. Wenn jemand das Hamburger Geschäft betrete, könne er mit ziemlicher Sicherheit ausmachen, ob seine Entwürfe zu dieser Person passen oder nicht. Manche Kunden kämen ganz zaghaft, um dann komplett einzutauchen in diese besondere Nische. Auch wenn man die Damen- und Herrenkollektion räumlich getrennt habe, sei dies am Ende zweitrangig. „Maskulin, feminin – wen kümmert das? Genauso unwichtig wie Trends“, sagt Stefano Angelico unaufgeregt. Zeitgeist ist nicht seine Sache. Vielmehr die schöpferische Freiheit, die auch der Vogel auf seinen Labels symbolisiert. „Kleidung muss den Charakter eines Menschen unterstreichen. Genau wie bei Bonnie“, sagt er und geht, sein Atelier ist nicht abgeschlossen. Was ihn aber nicht wirklich beunruhigt, hier auf St. Pauli.