Unter Artenschutz

Biotop Sylt. Diese ganz eigene Mischung aus Insulanern, Urlaubern, Zweitwohnungsbesitzern. Aber die Insel ist eben auch und großflächig Naturschutzgebiet. Inga Griese ging spazieren. 

Die Verlangsamung der Zeit gehört zu den Sehnsüchten, die mit den Jahren zunehmen. Zumindest technisch weiß ich jetzt, wie es geht. Ich hatte sicherheitshalber die Batterie gewechselt, den kleinen Braun-Wecker auf 5.30 Uhr gestellt, sah nachts den Sekundenzeiger kreisend leuchten und drehte mich beruhigt um. Wachte auf, weil mein netter Mann Kaffee ans Bett brachte. Es war fast 8 Uhr, die Uhr zeigte eins, der Zeiger drehte noch. Höh? Ich wollte doch extra früh los. Endlich mal zum Rantumbecken. Nur der Tagesanfang und ich, Dienstag nach Pfingsten, als es wieder ruhiger wurde. Sollte nicht sein, oder was? Hatte womöglich Herr Harms aus Keitum an der Zeit gedreht, damit ich doch erst den Garten auf- rüste mit seinen schönen Pflanzen, statt mich auf ’m Deich zu vertrödeln? Nun, es sei, ich hatte ja zum Glück noch einen Inseltag vor mir. Am nächsten Morgen klingelte das Handy pünktlich. Seit ich vor ewigen Jahren das erste Mal mit der „Sylt Air“ anreiste und dieses eigenartige, große Wasserbassin aus der Luft entdeckte, wollte ich da mal hin. Einmal zu Fuß die ganze Rundung über den Deich am Rantumbecken entlang. Warum es nie passierte, erklärt sich wie ein drehender Zeiger, der die Zeit verlangsamt.

 

Rantum liegt im Süden der Insel, dem „Nehrungshaken“, war lange Zeit ein sogenanntes „flüchtendes“ Dorf vor dem mit dem Westwind nach Osten wandernden Dünen. Immer wieder mussten die Bewohner ihre Häuser umsiedeln, ganze Kirchen verschwanden unter dem Sand. Wenn man heute beseelt an der einmaligen Dünenlandschaft vorbeifährt oder sie abläuft, kann man sich das kaum vorstellen. Doch die weißen Friesenhäuser von Rantum Inge waren weit bis ins 20. Jahrhundert die einzigen Häuser Rantums. Kann man sich auch nicht mehr vorstellen. Der Name Rantum Inge klingt so kurios wie die Strandabschnitte Sanisbar oder Samoa. Aber während die in den 30er-Jahren ihre exotischen Namen als FKK-Strände bekamen (der dritte im Bunde ist „Abessinien“ in Wenningstedt) wohnte einst jene Inge auf der Warft, die in der Sage vom Meermann Ekke Nekkepenn gegen ihren Willen zu seiner Braut gemacht wurde und damit aber seine Zerstörungswut zügelte. So eine Art Vorland quasi, wie die Salzwiesen, die langsam im Wasser vor den Deichen wachsen, gehalten von Queller, Strandaster und Strandwermut (die Namen!), den Wellen die Energie nehmen, ihre Wucht bremsen. 250 Mal im Jahr überflutet, Lebensraum für allerlei Wesen. Viel Landschaft auf wenig Raum.

Das ist Sylt vor allem. Dünen, Heide, mächtige Kliffs. Nicht nur erholsam für Menschen. Auch für Pflanzen und Tiere. Wenn der Mensch nicht stört. Weite Teile der Insel sind deswegen geschützt, ein Drittel ausgewiesen als Naturschutzgebiet. Ich wäre froh, wenn das auch für mehr Gebäude gelte. Wenn Begehrlichkeiten zu Gier werden, ist Schluss, den über 200 Jahre alten Gasthof in List klammheimlich abzureißen, wie am 30. Dezember 2022 geschehen, ist schlicht Frevel.

 

Moin! Hier kommen die Schafe aus den Wiesen, wo der Deich um das Rantumbecken endet oder beginnt, je nach Ausgangspunkt

Der Tag weiß noch nicht so recht, was er anziehen soll, Grau oder Hellblau? Wie unsereins unentschlossen vor dem Kleiderschrank, zieht der Himmel sich mehrfach um, ich würde es Lagenlook nennen. Wolken, Frühsommerblau, Morgensonne, zwischendurch noch verwaschenes Irgendetwas. Ich komme aus dem Norden. Noch nicht viel los auf der Straße, die die Insel von oben nach unten durchzieht. Teilzeit-Sylter steht auf einem Auto. Ich nähme Ganz- herz-Sylter. Bin kurz versucht, beim Bäcker zu stoppen, aber hab ja eine Schwarzbrot-Schnitte am Mann. Aber wieso hab’ ich eigentlich keinen Kaffee dabei? Im Gewerbegebiet herrscht auch noch Ruhe. Vorbei an den Fliesen von Hans-Jörg Schwarz. Ist zum Glück noch zu, man will reflexhaft renovieren, wenn man sein Sortiment sieht. Die Sylter Schokoladen Manufaktur, selbst Gemüse-Decker und der Hagebaumarkt sind auch noch zu. Ich fahre das Dach von meinem kleinen Fiat-Freund auf. Eines Tages gehe ich auch noch zu dem italienischen Maler „Antik“ in dem alten Reethaus an der großen Kreuzung in Tinnum, das mit dem weißen Klappsessel vor der so schön ollen Tür. Es gibt zwei Möglichkeiten, um zum Rantumbecken zu kommen. Der Weg beginnt am kleinen Hafen von Rantum. Oder endet dort, je nachdem. Anfang und Ende zugleich, was man halt so denkt am leisen, frühen Morgen. An dem kleinen Hafen war ich auch noch nie, weiter als bis zum Sansibar-Outlet sind wir irgendwie nie gekommen, dabei müsste man nur ein kleines bisschen weiter hineinfahren in die Welt, die auch dort immer mehr wächst. Die extra breiten Strandkörbe vorm „Hafenkiosk 24“ stehen stoisch in der Kälte. Ein sinniger Platz auch für die „Sylt Distillers“, die seit 2013 „Sylt Gin, Made by the Sea“ produzieren. Die Boote vom NSFV Segelclub mit dem Fisch im Wappen, liegen quer im Schlick. Es ist Ebbe. Sehr malerisch. Neben dem Sansibar Depot gibt es „Delüx Curry“, müsste man allein wegen des Namens mal probieren. Von der in jeder Hinsicht süßen „Sylter Bonscherie“ erzähle ich unseren Enkelkindern besser erst gar nicht.

Ich komme andersherum, durch „die Wiesen“. Parke am Wegesrand, um die Zeit geht das. Reflexartig denke ich: „Mann, die kaputte Kaffeemaschine! Remondis ist doch auch gleich hier.“ Das ist der Recyclinghof meines Vertrauens. Doch ich will ja mein Sylter Urgefühl recyceln. Als Kinder wurden wir morgens aus der Ferienwohnung geworfen und abends wieder reingelassen. Bei jedem Wetter, wochenlang. Hat, wie man so schön sagt, nicht geschadet. Meine Naturverbundenheit ist seit je nicht ideologisch geprägt, sondern Erinnerung. Nur an den Wind auf ’m Deich hatte ich an diesem Morgen nicht gedacht. Klar hatte ich kurz die Wetterlage gecheckt und des- wegen noch schnell die dünne Daunenweste über den Hoodie gezogen. Andere gehen Eisbaden, ich bei 10 Grad in kurzen Hosen auf den Deich. Hätte ja passend sein können Anfang Juni, meinem Lieblingsmonat hier, weil endlich alles wächst und das Licht so lang und verheißungsvoll ist. Und war nicht der Abend zuvor (und der Garten, haha!) so schön, sommerverheißungsvoll saßen wir auf der Bank an der sonnengewärmten Backsteinmauer. Hatten die Sitzpolster draußen gelassen über Nacht, der Inbegriff von Unbeschwertheit hier im Norden. Sie waren natürlich klatschnass am Morgen.

Wir hatten die Gartenbewässerung zum ersten Mal angestellt. Falsche Richtung. Meine Richtung aber stimmt. Durch das schräge Gatter, das vorsorglich von allein zufällt, geht es auf den Deich, links das Watt, rechts das Rantumbecken. Brackwassersee, habe ich irgendwo gelesen. Klingt ja nicht so appetitlich. Aber was sind Worte, wenn man hier in die Weite blickt. Da ganz hinten kurz vorm Rantumer Hafen, sechs Kilometer ist die Strecke lang, sind wohl Menschen, ansonsten nur Vögel in Sicht, ihre kleinen und größeren Privatinseln im ruhigen Wasser. Die Schafe schlafen vielleicht auch noch, dass sie sich hier zuhauf rumtreiben, erkennt man nur an ihren Hinterlassenschaften. Das Becken wurde Mitte der 1930er-Jahre im Auftrag der Wehrmacht vom Watt abgetrennt, um den Wasserstand künstlich auf einheitlichem Niveau zu halten, sollte es doch als Fliegerhorst für Wasserflugzeuge dienen. Doch schon bei der Fertigstellung wurde es nicht mehr als „kriegstauglich“ eingestuft, gut für die Sylter, schlimm für die Dänen, dort fand die Wehrmacht geeignetere Plätze. Nach dem Krieg sollte auf der Fläche ein Koog mit vier landwirtschaftlichen Betrieben entstehen, doch dann wurden erst einmal die Abwässer von Westerland eingeleitet, bis das Becken 1962 renaturiert und zum Seevogelschutzgebiet erklärt wurde. Mit der Zeit dankte es mit Wiesen, Sümpfen, Wasser- und Sandflächen. Der Verein Jordsand, der 1909 mit dem Kauf der Hallig Norderoog erstmals ein Vogelschutzgebiet sicherte, hütet auch hier ein. Meine Beine sind kalt, mein Herz ist warm.

Das Rantumbecken: 576 Hektar Naturschutz- gebiet für Vögel und Pflanzen. Der kleine Hafen von Rantum, wo der Deich beginnt

Ich mache noch einen Abstecher nach Hörnum. Fahre ich an Dünen vorbei, die Kirchen geschluckt haben? Auf dem Parkplatz stehen zwei LKW-Anhänger von „Original Sylter Muscheln“. Muss gut laufen. Linkerhand das Gerd-Lausen-Haus. Roter Backstein, ein Schullandheim. Nicht das Einzige auf der Insel. 12 Euro die Nacht. Die „Tiroler Stuben“ grüßen mit „Servus, Moin Moin.“ Zwei ältere Männer stehen am kleinen Parkplatz, von dem es zur Kriegsgräberstätte geht, gegenüber von dem schön schlicht renovierten Siedlungshaus „fünf“ und halten einen Schnack. „Alltagsmenschen“ der Künstlerin Christel Lechner? Nee. Sind echt. Wie so vieles hier zum Glück noch.

 

Die „Arche Wattenmeer“ ist ein Naturerlebniszentrum in der ehemaligen katholischen Kirche St. Josef in Hörnum
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INGA GRIESE
FOTOGRAF
JOHANNES ARLT; INGA GRIESE