Handwerk hat italienischen Boden. Im Wortsinn. Davon ist Inga Griese nach einem Besuch bei Kiton überzeugt.
IN NEAPEL NÄHEN
UND WERBEN
Mittags im „Ristorante Mattozzi“, der Chef im eleganten Tweed herrscht vom kleinen Teakschreibtisch am Eingang aus. Die Wände sind gepflastert mit Kochgeschirr, Devotionalien, Fotografien und Gemälden, die weiß gedeckten Tische stehen eng. Ein riesiger Spiegel echot das Geschehen, das Geschirr ist von Vietri handbemalt, darauf werden Mozzarella, die typische Bohnensuppe, Risotto, Kuchen serviert. Kein Reicheleuteessen, sondern einfach köstlich. Dazu Franciacorta-Wein, Acqua, Espresso, Kellner mit langen Schürzen füllen und schenken schwungvoll nach. Willkommen in Neapel, willkommen bei den Paones, der Familie, der die Luxusmarke Kiton gehört. Willkommen in einem Lebensgefühl, das hier überdauern darf. Sitzt man bei „Mattozzi“, ahnt man sofort, was Kiton bedeutet. Handarbeit, Tradition, Heimatliebe, Geselligkeit. Ein Geist, ein Luxus, der mit Geld kaum zu bezahlen ist. Auch wenn man das natürlich braucht. Gerade als Kunde oder Kundin dieser Schneiderfamilie. Aber dafür gibt es dann auch etwas, das bleibt. So wie „Mattozzi“ seit 1880.
Es ist Ende November, Giovanna Paone, Tochter von Kiton-Gründer Ciro Paone und Präsidentin, sowie ihr Vetter, der CEO Antonio de Matteis, haben in ihre Heimat, ihre Fabrik, eine von sieben in ganz Italien, in ihr Hauptquartier geladen. Neapel sehen und verstehen. Kiton ist ein Global Player auf stetem Expansionskurs, auch die Damenlinie, die Giovanna vor einigen Jahren eingeführt hat, entwickelt sich prächtig, genauso wie die Leisurewear. Am Tag nach unserem Besuch werden sie in London ein neues Geschäft eröffnen, in Seoul gibt es jetzt auch eines. In Deutschland wird Hamburg nicht allein bleiben. Aber das Herz schlägt hier.
Selbst die T-Shirts und Oberhemden. Die Schuhe sowieso. In der Fabrik in Arzano wird tatsächlich fabriziert. Viele Mitarbeiter tun es seit Ewigkeiten. Stich um Stich wird das alte Wissen weiter genäht, der Nachwuchs in der hauseigenen Schule trägt weiße Kittel. In der großen Fertigungshalle geht es zu, wie man es von einem Familienbetrieb erhofft. Ganz unterschiedliche Frauen sitzen an Holztischen, nähen und plaudern, als wäre es die heimische Küche. Der Zuschneider mit schwarzem Rolli und Pepitahose fegt mit der Schere, die so schwer ist, dass ich sie nicht mit einer Hand halten kann, millimetergenau durch Kaschmirware. Die Reste wischt er vom Tisch. Sie werden abends gesammelt und gespendet. Antonio de Matteis erzählt: „Wir unterstützen eine Einrichtung für Drogenabhängige, geben ihnen die Reststücke, damit sie sie weiterverkaufen können. Das lohnt sich, denn wenn man qualitativ so hochwertige Stoffstücke einfacheren beimischt, erhöht man den Wert der recycelten Ware.“
Sein Onkel sei in vieler Hinsicht ein Visionär gewesen, „von Anfang an waren wir ein sozial eingestelltes Unternehmen. Seit 20 Jahren arbeiten wir 7,5 Stunden am Tag und zahlen für acht Stunden. Meinem Onkel war immer das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter wichtig. Die Leute sind nicht gestresst, wir nennen uns hier beim Namen, auch Giovanna und ich werden nicht wie die Chefs der Firma gesehen, sondern als Teil der Familie, und die Mitarbeiter sind ein Teil unserer Familie.“
Bei Kiton wird alles von Hand gemacht und ist sehr familiär. Giovanna Paone, Tochter von Gründer Ciro Paone, und ihr Vetter Antonio de Matteis führen das Luxusunternehmen. Der Tunnel, der die Werkhallen miteinander verbindet, ist ein Entwurf von Hadi Teherani und beherbergt des Gründers Sammlung von Kleidungsstücken Edwards VIII. Im Bügelraum, wie auch überall sonst, kleben die drei Heiligen Neapels: Jesus, Diego Maradonna und Ciro Paone.
Wir schlängeln uns durch die Tischreihen, die nicht auf Linie stehen. „Schauen Sie, diese Mitarbeiter sitzen nicht am Fließband, sie können Musik hören, es gibt niemanden, der mit Blick auf die Uhr kontrolliert, wie lange sie brauchen, um eine Jacke zu machen. Manchmal besuchen uns große Firmen und machen große Augen, denen sage ich, das ist nichts für sie.“ Aber bei den Paones hat seit 35 Jahren noch nie jemand gekündigt, drei mussten gehen, weil sie geklaut hatten. An der Wand im Bereich mit den Dampfbüglern kleben Poster von den drei Heiligen Neapels: Jesus, Diego Maradona und Ciro Paone, dem Gründer, der im Oktober 2021 mit 88 Jahren verstarb. Sie haben von ihm Abschied genommen wie von ihrem Papst.
Zwischen dem ausgedehnten Lunch im „Mattozzi“ und einem noch ausgedehnteren Abendessen in der „Concettina ai Tre Santi“ im Arbeiterviertel Sanità, seit 1951 im Familienbesitz, waren wir am Tag vor dem Fabrikbesuch noch auf dem Belvedere im Museum „Certosa di San Martino“, einem ehemaligen Kloster. Hier gibt es auch eine sehr große Sammlung alter Krippen zu sehen, die für Neapel so typisch sind. Dargestellt werden nicht nur die Heilige Familie, sondern ganze Lebenswelten: Alltagsszenen, in filigransten Arbeiten, mit kostbaren Stoffen. Die Paones und de Matteis haben natürlich auch welche.
Während wir das Kloster erkunden, hat sich ein Unwetter zusammengebraut, wir müssen zügig den Berg verlassen. Regen klatscht aus der Dunkelheit gegen die Scheiben des Kleinbusses, wir kommen an der alten Schule von Giovanna Paone vorbei und sie erzählt: „Ich kannte meinen Vater nicht wirklich gut, da er immer im Ausland war. Aber ich wollte diesen Mann, der etwas aufbaute und den die Leute immer als einen Visionär sahen, schon als Kind verstehen, wollte Mode begreifen. Also trug ich seine Sakkos und Hosen, seine Jagd-Garderobe, seine Schals und Hüte. Einfach etwas kaufen reichte mir nicht, ich wollte experimentieren, habe ständig meinen Stil gewechselt, auch gern gestrickt. Oder mir Sachen von meinen älteren Cousins geliehen. Ich war nicht der Typ, der sexy sein wollte, aber auch kein Tomboy.“
Der Vater war unterwegs mit den Kollektionen, kaufte Stoffe und pflegte die Beziehung zu den Zulieferern, um die beste Qualität zum besten Preis zu bekommen. Alles mit dem Auto. Viel in Deutschland. „Manchmal habe ich ihn zwei oder drei Wochen nicht gesehen. Meine Schwester und ich fanden das überhaupt nicht gut, da alle anderen Kinder ja alle eine Mutter und einen Vater hatten. Aber als ich später in die Firma eintrat, habe ich alles verstanden.“ Doch zuvor kam die Frage auf, ob Ciro verkaufen solle, da er nur zwei Töchter hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Giovanna einmal als Mutter so viel unterwegs sein müsste, wie er es war. Aber sie hatte auch ihren Stolz. „Und ich hatte meinen Vater entbehren müssen für diese Firma – warum sollte ich mich also von ihr trennen? Und so schlug ich vor, dass meine Cousins mit einsteigen. Ich fing 1987 als ausgebildete Buchhalterin an, und sie kamen ein Jahr später.“ 1995 heiratete Giovanna. „Jene Jahre waren die schwierigsten, da meine Kinder klein waren. Ich wollte aber nicht aufhören, sonst wäre ich vermutlich nicht mehr wieder eingestiegen. Und so ging ich jeden Tag hin, und wenn nur für zwei, drei Stunden, und brachte auch meine Kinder mit, solange sie nicht zur Schule gingen. Vater freute sich, weil er Geschäftsmann und Großvater sein konnte. Er kaufte zwei kleine Pferde, zwei Schafe, Hühner – einen kleinen Zoo, eröffnete eine kleine Kita.“ Auch die Schwester arbeitete im Betrieb, in der Stoffabteilung. Dem strengen Patron war klar geworden, dass seine Töchter nicht nur einer Laune nachgehen.
Antonio de Matteis hat in seinem Büro ein Schild „Beschweren verboten!“. Er lacht verschmitzt und sagt: „Sollte jemand deswegen zu mir kommen wollen, kann er gleich in das Büro gegenüber gehen, das Kündigungsbüro – das ist immer leer.“ Man wundert sich nicht, dass die Orderbücher hier mehr als voll sind.