Haute Couture Paris

Der schmale Grat

Rettung durch großes Handwerk: Nach dem Skandal um zwei Werbekampagnen zeigte der Balenciaga-Designer Demna nun eine atemberaubende Haute-Couture- Kollektion.

 

DEMNA BACKSTAGE

Backstage stand noch ein ganzer Stapel goldener Stühle. Man könnte meinen, es habe halt viele Absagen gegeben. Der Skandal im vergangenen Winter wegen zu kinderpornografischer Anmutungen zweier Anzeigenkampagnen hatte hohe Wellen geschlagen. Und selten wurde ein berechtigter Shitstorm so schlecht gemanagt. Es wurde mächtig gemunkelt, ob das das Ende von Demna Gvasalia, der nur noch als Demna firmiert, als Kreativdirektor von Balenciaga wäre. Doch ungewöhnlich für die Branche rollten gar keine Köpfe im französischen Prestigehaus. Und es schien, dass Eigentümer François Pinault und seine Frau Salma Hayek im vergangenen Halbjahr besonders oft Balenciaga trugen. Als Teil seiner Abbitte verkündete der Designer eine Abkehr von medialer Effekthascherei – er wolle sich wieder auf den Kern der Mode besinnen: also Silhouette und Handwerk.

Mit besonderer Spannung wurde daher die Haute-Couture-Show des Hauses am vergangenen Mittwoch erwartet. Wer würde kommen? Würde überhaupt jemand kommen? Und was würde Demna präsentieren? Es kamen Fachpublikum, Journalisten und Stars. Und sie sahen ganz großes Handwerk. Zunächst Riesengebrüll der Schaulustigen vor dem Unternehmenssitz in der Avenue George V, als die amerikanische Rapperin Cardi B. ausstieg – draußen in mächtigem weißen Federflausch, drinnen eine überdimensionale Taftschleife zum schwarzen Latexsuit. Derweil hatte die elegante Oskar-Gewinnerin Michelle Yeoh als Ehrengast neben François Pinault Platz genommen. Medialer Effekt und wahrer Stil saßen sich genau gegenüber. Die zweite Chance konnte beginnen.

CARDI B & MUSE / MODEL ELIZA DOUGLAS

Maria Callas sang a cappella – in zeitgenössischer Raffinesse mit KI-Unterstützung. Wie der gelöste, umgängliche Demna später backstage erklärte: „Die Stimme, die mich am meisten berührt, ist die von Maria Callas. Aber ich habe sie nie ohne Musik gehört, weil sie offenbar keine Studioaufnahmen gemacht hat. Mithilfe von KI-Programmen wurde über Monate daran gearbeitet, die Stimme zu isolieren. Ein verrückter Prozess. Das war wirklich die Couture-Art, Sound zu machen.“ Dieses Mal, so Demna, wollte er „wirklich Emotionen zeigen“.

Und dann schritt als erste Danielle Slavik erhaben über die beigefarbene Auslegeware: Sie war in den 1960er-Jahren das bevorzugte Model von Cristóbal Balenciaga, ihre perlenbestickte Samtrobe einem Originaldesign nachempfunden, das Grace Kelly einst zu ihrem 40. Geburtstag kaufte.

Eine Abfolge von Silhouetten. Der Fokus lag, sehr Balenciaga, auf der Schulter. Als scharfe Linie, Männer trugen Sakkos mit leicht verbreitertem Kreuz, Frauen steif vom Oberkörper aufragende Tube-Tops. „Die Idee dahinter ist ein auf den Kopf gestelltes Herren-Sakko“, erklärte der Designer. Ein geschwungener V-Ausschnitt war inspiriert von den Saumabschlüssen der ursprünglichen Schneiderjacken des Couturiers. Anzüge kamen in Prince-of-Wales-Karo oder Nadelstreifenwolle, allerdings ein japanisches Denim, das auf antiken Webstühlen gewebt wurde. Ein Bustierkleid bestand aus 10.000 Kristallen und erforderte die individuelle Anbringung von 3-D-gedruckten Harzfassungen für jeden Stein – und 900 Stunden Produktionszeit.

Mäntel und Schals sahen aus wie in der Bewegung gefroren. Sie sind so geschnitten und gestärkt, dass sie wie vom Winde verweht wirken. Dahinter stecken zwei Tage Handarbeit und ein gestricktes, verklebtes Innenfutter, das den Außenstoff verstärkt: „An den Skulpturen, die aussehen, als hätte es eine Art Orkan gegeben, habe ich schon vor langer Zeit gearbeitet. Wir haben sie dann ein bisschen weniger abendlich und lässiger gemacht.“

Zum Ende schwebte Jeanne d’Arc heran. Die Künstlerin Eliza Douglas, Demnas Muse, in voller Rüstung. Ein knöchellanges Kleid mit Tonnenrock aus CAD-entworfenem, 3-D-gedrucktem Gitter und galvanisiertem Harz, in Chrom poliert, mit einer Beschichtung aus schwarzem Flock im Inneren – wie ein Schmuckkasten. Steif und reflektierend, verkörperte es eine Kreuzung klassischer Techniken mit den neuesten Errungenschaften. Es sei ein persönliches Statement, sagte der Designer. Denn seine Arbeit sei seine Schutzzone. „Ein sicherer Ort, an dem ich glaube, dass ich existiere. Jeanne d’Arc wurde verbrannt, weil sie Männerkleidung trug, und ich dachte, wenn sie so etwas getragen hätte, wäre sie vielleicht nicht verbrannt worden. Ich habe mein ganzes Leben lang darunter gelitten, wie ich mich kleide oder was ich durch meine Arbeit zu zeigen versuchte, und es ergab einfach diese Relevanz und symbolische Bedeutung. Und wie die Kristallkugel zu sagen pflegte, das nächste Jahr ist wirklich mein.“ So also.

Mode sei heute voll von falscher Kreativität. „Couture ist für mich das einzige Werkzeug, um zu zeigen, was das Wesentliche an diesem Job ist. Authentisch und kreativ sein und nicht das endlose Marketing und Verkaufen und all dieses Blabla, das die ganze Branche kannibalisiert hat. Meine Aufgabe ist es also, zu zeigen, dass Haute Couture wie ein Antivirus ist. Couture ist sehr schwer zu kopieren. Und ich liebe diesen Teil.“

Er habe auch zeigen wollen, „dass es keine Perfektion“ gäbe. „Oder vielleicht ist sie durch Unvollkommenheit getarnt. Und trotzdem suchen wir ständig nach ihr. Balenciaga suchte immer nach Perfektion in allem, er zog einen Ärmel an, zog ihn aus, zog ihn an und zog ihn wieder aus. Jeder im Atelier wusste, dass er nie zu 100 Prozent zufrieden sein würde.“ Begabung und Fluch des Mannes, den Coco Chanel den „einzig wahren Couturier“ genannt hatte.

Er aber habe „das Gefühl, dass ich irgendwie loslassen kann. Ich denke, dass Unvollkommenheit gut genug für mich ist.“ Wie reizvoll das aussehen kann, zeigte Demna mit den Trompe-l’oeil-Looks. Das muskulöse Männermodel in Jeans und engem schwarzen Pulli im ehrwürdigen Haus? Die kleine Provokation zwischendurch?

Erst auf den zweiten Blick offenbarte sich die ungeheure Raffinesse. So wie bei den Pelzen, der Pythonjacke, dem Jeans-Anzug. Alles auf Leinen und Baumwolle gemalt. „Ich dachte an lässige Couture. Aber es dauert zweieinhalb Monate, diese Jeans zu malen! Es sind eigentlich Ölgemälde auf Leinwand. Ich habe an meine Zeit an der Kunstschule und die Kunstgeschichte erinnert, und ich war immer neidisch auf Leute, die Ölgemälde fertigen konnten. Und das hier ist eine Reverenz daran. Vor allem aber ist es die wahrscheinlich aufwendigste und komplexeste Kollektion, die ich je gemacht habe.“

Die perfekte Illusion war allerdings nicht ganz vollständig. Die Farbe hörte kurz oberhalb des Saums der Ärmel auf. Eine Kante blieb. Der schmale Grat.

Text
Inga Griese