Apulien

Zurück zum Ursprung

 Die Autorin und Fotografin Katja Brinkmann lebt seit 15 Jahren in Apulien. Bis heute ist sie „la tedesca“. Und doch mittendrin.

„Was finden nur alle an Apulien?“, frage ich Manuela um halb sechs Uhr morgens. Wir spazieren mit unseren Hunden am menschenleeren Strand von Savelletri. Wochenlange Wüstenwinde haben einem frischen Maestralelüftchen Platz gemacht. Für ein paar Tage nur, weiß Zeus der Fischer, der sein Boot putzen will und am Morgen „nur“ zwei stattliche Kraken gefischt hat. In der Kiesbucht des 700-Seelen-Dorfes dreht die Signora mit der blauen Bademütze ihre Runde, aus dem Caffè „Il Marchese“ wabert der Duft von Cornetti und Cappuccino.

„Hm“, sagt Manuela, eine schöne, schlanke Frau in den 70ern, die die Welt bereist hat, auch Ziele wie Libyen zu Zeiten Gaddafis. Geboren ein paar Kilometer weiter, in Fasano, aufgewachsen in Rom, verbringt die pensionierte Mathematiklehrerin seit ihrer Kindheit jeden Sommer hier, zwischen gelegentlichen Schwätzchen von Tür zu Tür, langen Siestas und immer einen Fuß im glasklaren Wasser. Und Essen, immer wieder Essen, darum dreht sich in Apulien (fast) alles. Cozze, Vongole, Seppie, Auberginen, Zucchini, Karotten aus dem Garten, frische Pasta. Unwiderstehlich, unspektakulär. Madonna soll wieder in der Gegend sein, sagt Manuela und weiß auch, was die Popikone zum Lunch in Lecce gegessen hat: „Fave e cicorie“, apulisches Nationalgericht, Zichorien mit Bohnenmus. Luxus auf apulische Art.

Die Uhren ticken anders, Langsamkeit ist Lebensrhythmus. Manuela spielt abends gern Karten mit der 103-jährigen Mutter. Manche apulische Tugend klingt nach Aktivität, ist aber nur Entspannung. „Farsi un bel bagno“ etwa bezeichnet nicht eine Runde schwimmen, sondern knie- bis hüfthoch im Wasser stehen und mit den Umstehenden über Gott und die Welt reden – oder auch nur stehen, gucken. „Stare a mollo in acqua“ bedeutet „abhängen im Wasser“, Hauptsache, wenig Aktion. „Was gibt’s Neues bei euch da unten?“, fragt meine Mutter am Telefon häufig. „Buh …“, sage ich achselzuckend, was in Apulien alles und nichts bedeutet.

 „Tutto a posto, alles fein.“

Bella Puglia! Die Buchten von Poligno a Mare, ein Hinterhof im Zentrum von Locorotondo, eine Aussichtsplattform in Poligno a Mare. Und die Trulli von Alberobello.

Vom Licht ist viel die Rede, als ich mich bei lokalen Freunden nach dem Geheimnis Apuliens umhöre. Das unwiderstehliche Morgenlicht in Otranto, das die Einheimischen ebenso wie die Touristen in aller Herrgottsfrühe an die Luft treibt. Oder die spektakulären Sonnenuntergänge am Mittelmeer, lo Ionio, die man gern zu reichlich Aperol Spritz zelebriert. Von Stränden wird geschwärmt, schöner als die in der Karibik: winzige Buchten wie die von Acquaviva bei Castro oder endlose Sandstrände wie in Torre dell’Orso, wo man im Winter stundenlang gehen kann, ohne irgendjemanden zu treffen. Olivenland Apulien, nicht zu vergessen, dem Teufelsbakterium Xylella zum Trotz. Sagenhaft auch das Itriatal mit den unverwechselbaren Trullis, die weiten Ebenen des Salento, in dessen abgelegenen Dörfern Dialekt gesprochen wird, der mehr dem Spanischen ähnelt als dem Italienischen.

Das Schönste aber ist die Zeit, die irgendwie langsamer zu vergehen scheint, vielleicht weil man die Momente intensiver lebt und auskostet als anderswo und sich dabei früher oder später auf sich selbst besinnt. „In Apulien findest du dich selbst wieder. Oder du lernst eine ganz neue Seite an dir kennen, ein Ich, das dir vielleicht viel sympathischer ist als das, das du schon ein Leben lang kennst“, sagt Fabio Mollica, 53, Chefredakteur und Verleger des apulischen Lifestyle-Magazins „Amazing Puglia“ in Brindisi. Mollica hat die Welt bereist, ehe er sich als werdender Vater wieder auf seine Wurzeln besann und nach Brindisi zurückkam. Ursprünglich und unprätentiös ist „sein“ Apulien, ein Bilderbuch-Italien mit kleinen Borgos, in denen es eine Eisdiele, eine Bar, eine Trattoria und sonst gar nichts gibt und in denen um neun Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt werden. Eine heile Welt für Typen und Träumer aus der ganzen Welt, die hier für immer bleiben wollen. Jutta und Max etwa, die vor rund zehn Jahren in einer apulischen Masseria heirateten, Jahr für Jahr mit den Kindern im Urlaub wiederkamen und jüngst mit der hocheleganten „Masseria Calderisi“ selbst Gastgeber geworden sind.

Oder Aurelia und Emanuelle, zwei Pariser Architekten, die sich in ein Grundstück mit Meerblick bei Carovigno verliebten, sich dort eine atemberaubende, arabisch-portugiesisch inspirierte Villa bauten und den Sommer über ganz Paris zu Gast haben. Heidrun und Bodo aus Hamburg, deren charmantes Rustico bei Ostuni als Ferienwohnung gedacht war und dank Lockdown und Teleworking zweiter Wohnsitz wurde. Mea und David aus Los Angeles, Paolo und Leonie aus Australien, oder Ulrike und Pascale, die im vergangenen Jahr das „Paragon 700“ in Ostuni eröffneten. „Apulien hat mein Herz erobert, seit ich zum ersten Mal dort war“, erzählt der Engländer Steven, der seit knapp drei Jahren mit seinem Lebenspartner, dem Künstler Harvey B-Brown das Castello Elvira bei Lecce renoviert.

 „So etwas Unverdorbenes, Einfaches und traditionelles wie Apulien findet man auf der Welt kein zweites Mal.“

Ein Cappuccino mit der Hundefreundin Manuela noch, ehe wir uns bis zum nächsten Morgen verabschieden. Kurz darauf sehe ich sie mit einer grünen Plastiktüte Richtung Zuhause marschieren. Die beiden Kraken, frisch gefischt. Es muss ja etwas gegessen werden heute Abend.

 

 Katja Brinkmann lebt zwischen Lecce und der „Masseria Torre Coccaro“ in Savelletri/Fasano, die ihr Mann mit seiner Familie betreibt. Ihr Buch „Typen, Träumer, Lebenskünstler. Land und Menschen an einem Rande Europas“ ist den Pugliesen gewidmet, derzeit arbeitet sie an einem Bildband über Ausländer, die sich in Apulien niederlassen (Corso-Verlag)

 

Text
Katja Brinkmann
Bilder
Niko Schmid-Burgk