Gamechanger

Sein Sternzeichen sagt: weiterziehen

 

Die Götterdämmerung begann womöglich schon früher. Denn auch der Kering Konzern wird in seinem Handeln von nüchternen Analysten getrieben, von den wahrscheinlich die wenigsten eine Schluppenbluse von Gucci Kreativdirektor Alessandro Michele tragen. Als nun bekannt gegeben wurde, dass Michele nicht mehr für das Haus tätig sein wird, der Guru nicht mehr zählt, weil die Zahlen nicht stimmen, lässt sich die Cruise Show vom 16. Mai (deren Produkte jetzt im Handel sind, schnell, schnell…) womöglich in einem anderen Licht sehen.

Michele hatte ihr den Titel „Cosmogonie“ gegeben, was sich auf die Geschichte des Universums bezieht. Das Setting, das als Firmament illuminierte Castel del Monte in Apulien, war so magisch wie das Datum: eine Mondfinsternis trat auf. Die Show war auch gedacht als Ode an den Philosophen Walter Benjamin, den Michele bewundert. In den Shownotizen formulierte er:

„Was auf den ersten Blick atomisiert und verstreut erscheint, wie Sterne am Himmel, wird durch Benjamins Augen  zu einer Ansammlung von Komplizenschaft“

Aus heutiger Sicht liest es sich wie eine Ansage, fand die Trennung doch statt, weil der Messias, der mit seinem Paradigmenwechsel in der Mode, Kulturgeschichte aber auch Umsatzgeschichte geschrieben hat, nicht länger als Heiliger gesehen wurde. Wenn die Zahlen nicht stimmen, asiatische Jünger nicht mehr in Scharen zur Messe, a.k.a. zur Kasse kommen, dann nützt es nicht. Es war aber auch klar, dass Michele der Aufforderung zu einem Richtungswechsel nicht folgen konnte, eine Design-Verstärkung an seiner Seite nicht akzeptieren würde. Das wäre geradezu ein Verrat an seinem Gucci-Stil gewesen, mit der er in den sieben Jahren an der Designspitze nicht nur das Unternehmen verändert hat, sondern auch die Gesellschaft. Keiner hatte einen solchen Einfluss darauf, dass sich die Gendergrenzen auflösen konnten.

Schon die Schluppenblusen in der ersten Männershow im Februar 2015 in Mailand, nur wenige Wochen nach seiner Ernennung, waren ein Signal. Spätestens bei der Cruise im Juni in New York dann war klar, dass das kein Ausrutscher war, sondern zum Konzept werden würde, das die ganze Welt faszinierte. Man saß in einer Art Garage, mit dickem Persianerteppich ausgelegt auf Goldstühlchen, die in Schlangenlinien aufgestellt waren und konnte nur staunen: Solche Models hatte es noch nie gegeben, solche Looks auch nicht. So bunt, so divers, so verrückt, so supercool. Alessandro trug schon damals die Jesusfrisur und an jedem Finger viele Ringe, und sprach mäandernd über all die Ideen, die in seinem Kopf wie eine Stimmen-Melange aus Kulturgeschichte, Kostümgeschichte, Zeitgeist, Mythologie, Philosophy, Poesie und Eklektik scheinbar durcheinander reden, aber dennoch als stimmiger, berührender Chor ertönen.

Gucci Cruise 2016 in NY

Er blieb dieser Linie treu, allein seine letzte Show in Mailand, im September, an deren Ende sich eine Trennwand zwischen zwei Räumen erhob und jedes Model zum Schluss-Defileé die Hand seines Zwillings ergriff – das war ein großer Moment.

Das Schicksal von Walter Benjamin hat Alessandro Michele tief berührt. Dessen Selbstmord, als die Flucht vor den Nazis nicht gelang und sie zudem seine Bibliothek, seine Manuskripte, seine Notizen konfisziert hatten. „Ein Mann“, schrieb Michele, „der ohne seine Zitatensammlung nicht leben wollte.“ Es scheint nur konsequent, dass der Designer der Aufforderung von Kering, gewissermaßen seine Zitatensammlung ad acta zu legen, nicht folgen konnte.

„Wenn sich das Gewesene blitzartig mit dem Jetzt zu einer Konstellation verbindet“, hatte Walter Benjamin einst notiert. Am 2. November hatte Gucci zu einer „extended version“ der Cosmogonie-Cruise Show in Seoul geladen. Mit Rücksicht auf die Katastrophe mit über 150 toten jungen Leuten bei einer Halloweenfeier in Itaewon am Samstagabend zuvor, hatte Gucci gleich am Sonntag alles abgesagt. Alessandro war allerdings gar nicht erst nach Korea gereist, hatte kurzfristig ein paar Tage zuvor seine Teilnahme abgesagt, aus „persönlichen Gründen.“

Alessandro Michele Fotograf: Pierre-Ange Carlotti, 2020
GUCCI „HA HA HA Kampagne“ mit Harry Styles Fotograf: Mark Borthwick 2022
Gucci Valigeria Kampagne mit Ryan Gosling Fotograf: Glen Luchford 2022
Dani Miller trägt roten Lippenstift für die neue L’Obscur Mascara-Kampagne von Gucci Fotograf: Martin Parr 2020
Gucci: Paris Fashion Week Spring/Summer Fotograf: Dan Lecca 2019
Gucci Tailoring Kampagne Fotograf: Harmony Korine 2020  
Alessandro Michele: Gucci Fall/Winter 2018

Spannend bleibt, wohin seine Reise von hier aus geht. Denn eines kann man gewiss sein: Talente wie Michele werden früher oder später an anderer Stelle wieder auftauchen. Und Gucci wird auch ohne Michele das bleiben, was es schon immer war: ein großes Traditionshaus.

Text
Inga Griese